Die Potsdamer Straße in Flickerbildern

Von HU-Gastbloggerin Ilona Scholl

Montagnachmittag der 13. September 2010.

Die Sonne kämpft sich noch hie und da durch graublauschwarze Wolkenfronten. Straßen und Plätze überzieht ein hartnäckig-feuchter Film, der Herbst markiert sein Revier.
Wir entbergen die Potse in Hinterhöfen, der Stadtverkehr lässt es nicht anders zu.
Zum urbanen Grundrauschen aus Motorengeräuschen, Polizeisirenen, Getrippel und Geplapper, addieren wir Geschichten aus der Potsdamer Straße.

Reichspietschufer.jpg

Reichpietschufer (Foto Scholl)

Wir machen fleißig Probebohrungen, extrahieren Spekulationsobjekte, Kunst- und Kitschräume, Banken, Casinos, Museen, Liebe, Sex, Alp- und Wunschträume.

Unser Untersuchungsgegenstand wehrt sich erfolgreich gegen rigide Kategorisierungsbestrebungen und mag nicht so recht in eine gemütliche Schublade passen.
Wir lassen ihm seinen Willen und attestieren ihm Diversität.
Wir tasten uns an seinen alten und neuen Wänden entlang, für manche bezahlen ehemalige Hausbesetzer inzwischen brav Miete, andere schützen Leere vor Wertverfall und sagen “Ihr müsst draußen bleiben, ihr verwohnt uns hier noch alles!“ Wieder andere sind nicht mehr da. Wir imaginieren sie kurz ins Jetzt und gehen dann an ihnen vorüber.

Fensterwüste.jpg

Fensterwüste (Foto Scholl)

Nationalgalerie.jpg

Nationalgalerie (Foto Scholl)

An der Nordseite der Neuen Nationalgalerie setzen wir uns. Den Potsdamer Platz im Rücken, bilden wir eine Reihe ( der Gedanke an die Hühner auf der Stange drängt sich dem geneigten Betrachter unwillkürlich auf ). Einer steht unbeeindruckt exponiert und spricht von Thomas Mann, dem’s hier schnell zu wuselig wurde. Dann hören wir etwas über Taube, die auf sich selbst nicht als ‚taubstumm‘ oder ‚gehörlos‘ referieren, und ich merke, wie ich mich leicht nach vorn beuge, weil etwas in diesem Vortag mein Interesse weckt. “Commitment“, denke ich, weil mir das deutsche Wort nicht sofort einfällt und in just in diesem Moment, hat sich die Exkursion für mich personalisiert. Meine erste Assoziation zu diesem Ort wird künftig die junge Frau sein, die mit großer Geste auf die großen Gesten verweist, derer man nächste Woche in der Potsdamer Str. ansichtig werden wird, wenn hier anlässlich der ‚Deaf Week‘ eine Demonstration stattfindet.

potseherbst.jpg

potseherbst (Foto Scholl)

Später ein pittoresker Park, menschenverlassen ist er und mit akkurat getrimmtem Gras; es bilden sich Zweier- und Dreiergrüppchen. Von Migration ist die Rede, von Studentenwohnheimen und von Lofts für Reiche, die noch nicht so richtig kommen wollen, aber es wird ja stadtentwickelt. Verweis auf Hotels, Kindergärten, Schulen, Ateliers, irgendwo dazwischen Pause in der Kaffee-Garage des Freien Museums. Einem großen Heizkörper wurden Bücher zwischen die Rippen gesteckt. Heizregal.

Heizregal.jpg

Heizregal (Foto Scholl)

Weiter im Projekt.
Westwärts: Rossmann, Asia Box, Ein Euro Shop, Nagelstudio, ein Juwelier – Harem steht auf dem Schild – Burger King, LSD. Informationen über Gentrifizierung und Prostitution.

An der Bülowstraße steige ich in die Bahn. Reizüberflutet.
Am Donnerstag kommen wir zurück – es ist noch reichlich Potse übrig.

Weitersagen! Danke.
Facebook
Twitter
LinkedIn
RSS
SHARE

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.