Gastblogger Alexander Skrzipczyk
studiert Germanistik und Philosophie
Manchmal stelle ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn alle Menschen, die einmal an einem Ort waren, mit einem Mal zeitgleich wieder dort lebendig würden. Sicher, dichtes Gedränge wäre das, besonders an so einem Fleckchen wie Berlin, aber dennoch wäre es doch ungeheuer interessant und wahrscheinlich auch grotesk Offiziere auf Pferden, Manager mit Freisprechanlage und Herren mit Barockperücke sich ungläubig die Augen reiben zu sehen.
Inmitten des Gedränges um meinen Wohnort nahe der Potsdamer Straße wäre es nicht unwahrscheinlich Schulter an Schulter mit den Persönlichkeiten zu stehen, deren Buch ich gerade in der Manteltasche trage. Und da dieses Gedankenspiel ja nicht mehr als ein klaustrophiles Hirngespinst ist, mache ich mich mit einigen Poesie-Enthusiasten an einem regnerischen Nachsommertag auf, die Zeitreise rein imaginativ doch noch zu erleben.
„Berlin war ein Feuerbrand von Sonne. Die Dächer der Häuser und die Fenster zitterten vor Junihitze, so wie die Hitzeluft über Steinwüsten zittert. Es war, als heizten die Scharen der Autos mit ihren Benzindämpfen die Straßen, wie fliegende Öfen.“ schreibt Max Dauthendey, in seinen Geschichten aus den vier Winden von 1915. Und auch heute noch hat Berlin einiges von diesem rauen Charme gewahrt, besonders in der Bülowstraße, in der unsere Reise ihren Anstoß nimmt: Lärm, U-Bahn, Prostitution gehören zur Tagesordnung, Literatur und Poesie scheinen ferner als alles andere an diesem urbanen Hitzeknäuel.
Die schwelende Mietskasernen-Zeit wurde Ende des 19. Jahrhunderts besonders vom S. Fischer-Verlag literarisch verlegt. Knotenpunkt der naturalistischen Autoren wurde der Firmenhauptsitz im kriegsbedingt verschwundenen Hauskomplex Bülowstraße 90/91. „Ich hab’ gar nichts in mir. Ich weiß nicht mal, was das ist, Grundsätze“ heißt es in Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“, in dem der Zerfall einer von Alkoholdunst umwehten Bauersfamilie die Décadence der pseudo-bürgerlichen Tünche um 1900 ins Licht rückt; „Moderner Luxus auf bäuerische Dürftigkeit gepfropft“ komponiert Hauptmann, dem dieses Drama, ebenso wie dem S. Fischer Verlag, zum Durchbruch verhilft.
Nachdem der verträumte Robert Musil sein Weiterleben durch „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (1906) erst einmal gesichert hat, geht er ab 1914 regelmäßig bei S. Fischer in der Bülow-straße ein und aus, wo er Redakteur der Neu-en Rundschau ist, und wahrscheinlich schwingt bereits hier das immense Gedankengut seines monolithischen Epos, seines tausendseitigen Zeit-Gips-Abdrucks „Der Mann ohne Eigenschaften“ durch die staubig end-wilhelminische Berliner Luft, der Musil seine Phantasmen an den Grenzen der Unendlichkeit entgegenschleudert: „Denn das ist es, was eine ergreifende große Idee von einer gewöhnlichen, vielleicht sogar unbegreiflich gewöhnlichen und verkehrten unterscheidet, daß sie sich in einer Art Schmelzzustand befindet, durch den das Ich in unendliche Weiten gerät und umgekehrt die Weite der Welten in das Ich eintreten, wobei man nicht mehr erkennen kann, was zum eigenen und was zum Unendlichen gehört.“
Mir fällt hier, wie sooft an diesem Tage noch, ein Bild der nächtlichen Bülowstraße des zeitgleich schaffenden Malers Lesser Ury ein, in dem die wenigen Lichtpunkte das Ausufern der unendlichen Nachtschwärze nicht verhindern können und sich schließlich alles „in einer Art Schmelzzustand befindet“.
In solche Bilder versunken treibt es uns in Richtung Nollendorfplatz, an dem das Wohnhaus Lesser Urys stand, und der durch seine metallene Haube, die der ursprünglichen nachempfunden ist, sinnbildlich für unsere Zeitreise steht.
Um nicht der Unmittelbarkeit der rauschig belebten Straßen anheim zu fallen, setzen wir allesamt Kopfhörer auf, die uns den Rest des Weges pausenhaft mit Christian Brückners kraftvoller Stimme an einer „Berliner Kindheit um 1900“ teilhaben lassen. Derjenigen Walter Benjamins, dem wir heute an späterer Wegmarke noch persönlich über den Weg laufen werden.
„Die Fenster des Zimmers 61 gingen auf den Nollendorfplatz.“ kästnert es an unserem nächsten Ziel „Und als Herr Grundeis am nächsten Morgen, als er sich die Haare kämmte, hinuntersah, fiel ihm auf, daß sich zahllose Kinder herumtrieben“. Emil und die Detektive verfolgen nach Emils Ankunft am Bahnhof Friedrichstraße den verdächtigen Herren quer durch Berlin. Am Zoo, an Litfaßsäulen der Bundesallee und eben auch am „Nolli“ wird dem zwielichtigen Gesellen Grundeis nachspioniert.
Wir lassen den Blick schweifen über den Platz, die Bahnhofskuppel, helfen unserer Vorstellungskraft mit Bildern aus Zeiten nach, als der Platz noch begrünt und herrschaftlich Stadtoase war, sehen wie er im grell expressionistischem Gelb Ernst Ludwig Kirchners sich der apokalyptischen Moderne beugen muss, und gewinnen doch mit Lesser Urys Nachtimpressionen wieder eine gewisse, verwegene Schönheit wieder. Wir lesen allerlei über den Platz – lernen dabei, dass zahlreiche der umliegenden Straßengiganten nach preußischen Militärs aus den Napoleonischen Befreiungskriegen benannt sind und denken an die groteske Bipolarität von Preußentum und Schwulenkiez.
Überragt werden wir vom imposanten Gebäude des „Neuen Schauspielhauses“, an dem mittlerweile der Club „goya“ sein Sigel angebracht hat. Ursprünglich war dies aber das Experimentierpodium des Theater-Avantgardisten Erwin Piscator, der hier 1927/1928 technisch dramaturgisch die Theaterlandschaft veränderte. John Heartfield entwarf Bühnenbilder, George Grosz Programmhefte und Bertolt Brecht arbeitete einige Zeit in der Dramaturgie. Die letztlich finanziell zu umfangreichen Projekte wurden finanziert vom Brauereiindustriellen Ludwig Katzenellenbogen, dessen Name fast selbst schon eine Komödie für sich ist. Das Gebäude wurde seit seinen frühen Tagen auch als Kino genutzt: die Premiere von „Im Westen nichts neues“ wurde 1930 von Joseph Goebbels und NSDAP-Anhängern mit Stinkbomben und Zwischenrufen boykottiert.
Bei soviel stürmischer Aufregung und Geschichtsträchtigkeit verlassen wir den Platz, pinnen noch schnell das Konterfei Erich Kästners an einen Baum und treiben über die Kreuzung zu einem Straßenschild, an das wir ein Bildchen Else Lasker-Schülers heften. Auf ihm steht: „Else Lasker-Schüler-Straße“. Dieser Fortsatz der Motzstraße ist also nach der lyrischen Schwarzhaarigen mit den stechschwarzen Augen benannt, obwohl sie etwas südlich in einem Hotel in der Motzstraße Unterschlupf gefunden hat, welches sich inzwischen ihrer per Gedenktafel rühmt. Die chronisch unter Geldnot leidende Lyrikerin war wohl ehedem ganz und gar nicht mit Kusshand empfangen worden. Wir lesen ihre Liebesgedichte, der graue Himmel antwortet unbarmherzig mit nassen Tränen: „Ich weine – / meine Träume fallen in die Welt“.
Verträumt Walter Benjamins Kindheitserinnerungen lauschend visieren wir den nächsten, etwas ungewöhnlichen Standpunkt an: ein U-Bahnschacht-Gitter aus dem das Quietschen der gelben Loren, Gummigeruch und heiß stobende Luft zu uns durchdringt. Wir setzen uns direkt auf den Schacht vor der 12-Apostel-Kirche und könnten – wäre da nicht dieses beleuchtete Bahnhofsskelett – kilometerweit die Motzstraße hinuntersehen, wie sie von Platanen gesäumt in die Bundesallee mündet. Immer unterhalb ihrer Asphalt-Decke fährt Berlins kürzeste U-Bahnlinie U4 seit 1910 an den Schöneberger Plätzen entlang.
Die U-Bahn ist bezeichnend für Großstadthektik, Stress, Existentialität, die ausladend zum Ausbrechen einladen, wie in Albert Ostermaiers „Lebenslauf“: „lass uns nachts mitten auf/ der strasse durch die stadt/ rennen uns den hupenden/ autos in den weg stellen &/ unsere hemden über die/ schilder hängen wenn sie/ mit ihren gaspedalen an/ den ampeln drängen & sich/ an unseren verschlungenen/ körpern vorbeizwängen &/ uns der teufel weiss was/ nennen nein wir lassen uns/ nur von den zebrastreifen/ trennen die wie wir nichts/ als nackte haut & das/ einsame brennen auf dem/ asphalt kennen weil wir uns/ lieben müssen wir immer/ weiterrennen & wenn wir/ nicht mehr können für eine/ stunde auf den gittern der/ lüftungsschächte pennen/ bis sich uns vom heissen/ wind die haare im nacken/ wie antennen aufstellen &/ wir hochschnellen zurück/ auf die mitte der strasse &/ uns die streunenden hunde an/ den mülltonnen wachbellen &/ wir rennen & rennen bis die/ ersten strahlen des morgens/ die stadt & die gesichter ihrer/ müden menschen aufhellen &/ wie den offenen mündern von/ unserer reise erzählen“.
Fortsetzung folgt in einer Woche
wunderbar und anregend..ach mein musil, und die lasker-schüler, und der hinreißende piscator…ganz plötzlich wandeln sie lebendigst durch diese strassen ..halten sinnend inne an der piazza sowieso…will sagen , vielen vielen dank für diesen text, ana grüßt herzlichst