Leonie Kathmann
Ein Spätsommertag in Berlin Schöneberg. Wärmend spüre ich die Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Die ersten gelben Blätter sind von den Bäumen gefallen und liegen nun vereinzelt auf dem Bürgersteig. Bäume gibt es viele in der Großgörschenstraße. Sie reihen sich links und rechts an der kopfsteingepflasterten Straße entlang und grenzen diese vom Bürgersteig ab. Nur gedämpft sind die Verkehrsgeräusche der Yorckstraße zu vernehmen. Sonst friedliche Ruhe, ab und an Rufe von Kindern, die sich auf einen der vielen kleinen Spielplätze vergnügen, die zwischen den Häusern angelegt sind. Auf den ersten Blick wirkt die Großgörschenstraße wie eine hübsche kleine Wohnstraße. Prachtvolle Gründerzeithäuser reihen sich an vereinzelte, gut eingefügte Neubauten. Hier eine kleine Werkstatt für Motorräder, da ein Eckladen für Heimwerkerbedarf. Als ich meinen Weg langsam in Richtung Potsdamer Straße fortsetze, durchbrechen seltsame Laute die Stille. Ein Gegröle in einer mir unverständlichen Sprache, das mit jedem Schritt vorwärts ein wenig lauter wird. Zu meiner Linken erstreckt sich nun der Alte Sankt Matthäus Kirchhof. Hausnummer 12. Eine hohe, mit Efeu bewachsene Mauer grenzt den Kirchhof von der Straße ab. Eine an der Mauer angebrachte Marmortafel verrät mir, dass dieser seit 1856 besteht. „Die Poggenpuhls – eine Frau Majorin von Poggenpuhl mit ihren drei Töchtern Therese, Sophie und Manon – wohnten seit ihrer Übersiedlung von Pommersch-Stargard nach Berlin in einem gerade um jene Zeit fertig gewordenen, also noch ziemlich mauerfeuchten Neubau der Großgörschenstraße, einem Eckhaus, das einem braven und behäbigen Manne, dem ehemaligen Maurerpolier, jetzigen Rentier August Nottebohm gehörte. Diese Großgörschenstraßen-Wohnung war seitens der der Poggenpuhlschen Familie nicht zum wenigsten um des kriegsgeschichtlichen Namens der Straße, zugleich aber ach um der sogenannten >>wundervollen Aussicht<< willen gewählt worden, die von den Vorderfenstern aus auf die Grabdenkmäler und Erbbegräbnisse des Matthäikirchhofs, von den Hinterfenstern aus auf einige zur Kulmstraße gehörige Rückfronten ging, an deren einer man, in abwechselnd roten und blauen Riesenbuchstaben, die Worte >>Schulzes Bonbonfabrik<< lesen konnte“, so schrieb Theodor Fontane in seinem 1896 veröffentlichten Roman „Die Poggenpuhls“ über seine Protagonisten in der Großgörschenstraße. Der Sankt Matthäus Kirchhof existierte zu der Zeit also schon vierzig Jahre und der von Fontane beschriebene „Neubau“ wird eine der vielen schönen, aus heutiger Zeit eindeutig als Altbau einzustufenden Häuser sein, die die Straße zieren und aus oberen Stockwerken sicherlich einen tollen Ausblick auf den Friedhof bieten. Ihren „kriegsgeschichtlichen“ Namen hat die Straße von der ersten Schlacht der napoleonischen Befreiungskriege bei Großgörschen (Ortsteil der Stadt Lützen im heutigen Sachsen-Anhalt) von 1813. „Banane, Banane, Banane!“ Das nun sehr deutlich zu hörende Gegröle reißt mich aus meinen Gedanken. Sofort entgegnet eine andere Männerstimme lauthals auf Türkisch. Ich betrete durch ein in die Mauer eingelassenes schmiedeeisernes Tor den Kirchhof. Auf der Terrasse eines kleinen Cafés gleich hinter dem Eingang sitzen einige Leute auf bunten Bänken und Stühlen, die sich die Sonne in die Gesichter scheinen lassen. Irritiert von den lauten Rufen scheint hier niemand zu sein. Ungewöhnlich für einen Friedhof, auf dem doch üblicherweise ‚Totenstille’ herrscht. Doch genau das sei das Konzept, verrät eine Stammkundin des Cafés. Hannelore Lenz kommt jedes Wochenende auf den alten Sankt Matthäus Friedhof, um das Grab ihres verstorbenen Mannes zu pflegen. Danach sitzt sie gerne auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen im Café Finovo. Hier trifft sie viele bekannte Gesichter aus der Nachbarschaft, Menschen die genauso wie sie jemanden verloren haben und mit denen sie sich austauschen kann. „Der Name des Cafés verweist auf die Grundidee, das Tod und Leben hier verbunden werden sollen“ erklärt mir die dreiundsiebzigjährige Frau. Die beiden lateinischen Wortteile fin und novo, Ende und Anfang. „Das Geschrei der Händler auf dem Crellemarkt jeden Samstag und Mittwoch bringt noch ein Stück mehr Leben auf den Friedhof.“
Vorbei an dem Café und dem dazugehörigen Blumenladen setze ich meinen Weg auf dem riesig erscheinenden Friedhof fort. Eine Tafel informiert mich über die Lage der Ehrengräber. Unter vielen anderen prominenten Persönlichkeiten sind hier auch Jacob und Wilhelm Grimm zur Ruhe gebettet. Die fortgeschrittene Zeit und das unermüdliche Geschrei der Händler auf dem Markt ziehen mich jedoch zurück in das Leben auf die Großgörschenstraße. Beim Verlassen des Kirchhofes, fällt mir als erstes ein merkwürdiges Gebilde ins Auge, das die Form einer überdimensional großen Käseglocke hat. Eine Kletterkuppel für Kinder, wie ich bei näherem Hinschauen erkennen kann. Hier ist die Straße für den Autoverkehr unterbrochen. Unter der S Bahn Brücke mit der Station Yorckstraße (Großgörschenstraße) hindurch, kommt schließlich der Crellemarkt in Sicht. Ein buntes, amüsantes Treiben. Die Geräuschkulisse erinnert an ein ausverkauftes Fußballspiel im Olympiastadion. Aus voller Kehle preisen die ausschließlich türkischen Händler ihre Ware an, wobei ein Wettbewerb zwischen den verschiedenen Händlern zu bestehen scheint, wer am lautesten und am schnellsten sein Angebot herauskrakeelt. Berge von frischem Obst und Gemüse sind hier aufgereiht. Eine Schar von Frauen mit Kopftüchern steht um einen Mann versammelt, der Kleidungsstücke für einen Euro verkauft. „Junge Dame, junge Dame“ ruft mich ein Händler an seinen Stand. Ich koste von der frischen Honigmelone. Am Ende des Marktes angelangt, habe ich drei Tüten gefüllt mit frischem Obst und Gemüse in meinen Händen. Die Marktstrategie der Händler, bei mir ein voller Erfolg. Die letzten dreihundert Meter der Großgörschenstraße entlangschlendernd, vorbei an einem einladend aussehenden indonesischen Restaurant, bin ich in Gedanken versunken. Was kann ich nur mit dem ganzen frischen Gemüse zubereiten? Am Besten Ratatouille.