Das unentdeckte Land – Die Flottwellstrasse im Umbruch

Von HU-Gastblogger Marko Eitel

Als Kolumbus mit seinen Schiffen nach Westen aufbrach, hoffte er mit dem Seeweg nach Indien auch eine goldene Zukunft für sich zu finden. Viele Männer seiner Besatzung fürchteten aber auch, gefangen in ihrem alten Weltbild, den Rand der Erdscheibe zu erreichen und dort in das bodenlose Nichts zu fallen.

In einer ähnlichen Situation befindet sich derzeit die südlich des Potsdamer Platzes und parallel zur Potsdamer Strasse gelegene Flottwellstrasse in Berlin. Investoren haben damit begonnen in dieser lange sträflich vernachlässigten Strasse neue Wohn-, Büro- und Geschäftsgebäude zu errichten, um die attraktive Lage zu nutzen. Viele Kiezeinwohner und Umweltaktivisten stehen diesen Bebauungsplänen jedoch mit einer Mischung aus Angst, Misstrauen und Ablehnung gegenüber.

Am Anfang war der Lärm…

Während andere Strassen Berlins auf eine durchaus wechselvolle und interessante Geschichte zurückblicken können, hat die Flottwellstrasse eigentlich nicht mal eine richtige Geschichte. Benannt nach einem konservativen preußischen Politiker des 19. Jahrhundert, war die Lage der Strasse seit Anbeginn ihr Fluch: obwohl so nahe am Herzen Berlins gelegen, lag sie immer im Schatten der Potsdamer Strasse. Denn während diese sich mit Beginn der Industrialisierung durch ihre Anbindung an den Potsdamer Platz und dessen Bahnhof zu einer weltbekannten Strasse entwickelte, war die Flottwellstrasse gerade mal den Bewohnern und vielen Fuhrunternehmern ein Begriff. War die Potsdamer Strasse in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit ihren vielen Cafes das Sinnbild der Annehmlichkeiten der Moderne, so war die Flottwellstrasse das ganze Gegenteil davon. Auf der östlichen Straßenseite lag der zum Potsdamer Bahnhof gehörende Güterbahnhof auf dem fast alle aus dem westlichen Landesteil kommenden Waren umgeschlagen wurden. Dementsprechend war dort immer Betrieb. Zusammen mit dem östlich angrenzenden Anhaltiner Güterbahnhof wurde durch die Rangierarbeiten ein Lärm erzeugt, der den Cafebesuchern an der Potsdamer Strasse sicher den Appetit verdorben hätte. Der Lärm kam jedoch nie soweit: er zerschlug sich an der wie eine Phalanx stehenden Front der Mietskasernen, welche die westliche Flottwellstrasse säumten. Wer hier wohnte, arbeitete auf den Güterbahnhöfen oder hatte einfach zu wenig Geld, um wegzuziehen.

…dann kam die große Stille

Als sich der Lärm des Zweiten Weltkriegs verzogen hatte, herrschte in der Flottwellstrasse Stille. Das Gelände der Güterbahnhöfe war Eigentum der Reichsbahn, welche bei der Teilung Deutschlands der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen wurde. Dieses Eigentumsverhältnis blieb auch bestehen als mit dem Bau der Grenzmauer durch die DDR das westliche Berlin vom östlichen getrennt wurde. So entstand die kuriose Situation, dass die gelbe Backsteinmauer, welche das Areal der Güterbahnhöfe umschloss, wie eine zweite Grenzmauer wirkte. Das Gelände der Güterbahnhöfe gehörte zwar zum Territorium Westberlins, war aber Eigentum der DDR und konnte somit weder in die Raumplanung einbezogen, geschweige denn überhaupt betreten werden. So kam es, dass die Flottwellstrasse vom Rande des Zentrums fast ans Ende der Welt rutschte: eingeklemmt zwischen dem Tiergarten im Norden, der Grenzanlage im Nordosten und der gelben Backsteinmauer im Osten war diese Gegend vom neuen Zentrum am Kurfürstendamm aus gesehen so weit weg wie Sibirien und etwa genauso attraktiv.

Als die DDR in den 70er Jahren im Zuge eines Gebietsaustausches auf ihre Eigentumsrechte verzichtete und das Gelände der Güterbahnhöfe, oder wie man es auch nennt, das Gleisdreieck, wieder vollwertiges Territorium West-Berlins wurde, hatte sich die Fläche vollkommen verändert. Ungestört vom Menschen hatte die Natur das Gelände zurückerobert. Umgeben von Häusern war ein Wildpark entstanden, der durch die mit den Güterzügen eingeschleppten Samen und Keime eine biologische Vielfältigkeit besaß, wie sie in diesen Breiten sonst nicht anzutreffen war.

Der Stadtverwaltung war das erst einmal egal, sie wollte das neugewonnene Territorium so schnell wie möglich sinnvoll verwerten, wobei „sinnvoll“ aus der Perspektive vom Kurfürstendamm „Autobahn“ bedeutete. Die Pläne für die sogenannte West-Tangente hatte man seit Jahren in der Schublade und nun schien die Möglichkeit gekommen, sie endlich umzusetzen. Dass es dazu nicht kam, war neben veränderten politischen Rahmenbedingungen  am Ende auch den Protesten der Umweltbewegung und der Anwohner, welche sich mit dem „Park“ vor der Haustür angefreundet hatten, zu verdanken.

Ein Neubeginn

Mit dem Fall der Mauer kam zunächst einmal der Lärm zurück. Die Stadtplaner entschieden, dass der Potsdamer Platz an seine frühere Bedeutung anknüpfen und wieder zum Zentrum der Stadt werden sollte. Da das Gelände während der Teilung Grenzgebiet inklusive Mauer und Todesstreifen war, musste der Platz mitsamt Gebäuden neu errichtet werden. Das Baulager dafür wurde auf dem ehemaligen Potsdamer Güterbahnhof errichtet. Die Flächenplanung für Berlin sah jedoch vor, als Ausgleich zum komplett zugebauten Potsdamer Platz das gesamte Gelände des Gleisdreiecks zur Grünanlage zu machen. Das war jedoch einfacher geplant als getan: das Gelände der Güterbahnhöfe war mit der Wiedervereinigung in das Eigentum der Bundesbahn übergegangen. Zwar hatte die Bahn nicht vor die Bahnhöfe wieder in Betrieb zu nehmen, aber man war sich des Schatzes, den man da hatte, wohl bewusst: unbebautes und ungenutztes Land in direkter Nachbarschaft des künftigen Stadtzentrums. So wurde in einem Notenwechsel zwar dem Verkauf des Geländes an die Stadt zum Zwecke der Errichtung einer Grünanlage zugestimmt, man verlangte aber auch eine Wertausgleichszahlung, sollten Teile der kommenden Grünanlage plötzlich zu Bauland umdeklariert werden.

Doch die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. Obwohl die Gelder für die Errichtung des Parks bereitlagen, dauerte es noch einige Zeit bis im Jahr 2006 die Umgestaltung des Anhaltiner Güterbahnhofs in den Ostpark beginnen konnte.

Die Planungen für den an die Flottwellstrasse angrenzenden Potsdamer Güterbahnhof verzögerten sich sogar noch mehr. Der ursprüngliche Eigentümer des Geländes, die Immobiliengesellschaft der Bahn ist zwischenzeitlich von einer österreichischen Immobiliengesellschaft aufgekauft worden. Diese wollte einem Verkauf an die Stadt nur noch zustimmen, wenn sie einen Teil als Bauland behalten durfte.

Im Herzen einer Großstadt

An diesem Baugelände entzündete sich nun ein Streit der bis heute andauert. Während sich Stadt und Investoren als Wohltäter sehen und präsentieren, die für eine Hebung der Lebensqualität im Kiez sorgen, fürchten die Alteingesessenen, dass mehr Lebensqualität in erster Linie höhere Mieten bedeuten. Groß ist auch die Sorge, bei den Verhandlungen zwischen Kommune und Investoren übergangen und vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden.

Das bisherige Verhalten der Politik hat auch gezeigt, dass diese Sorge nicht ohne Grund ist: Viele Grundstücke, die bisher öffentlich genutzt werden konnten, als Sport- oder Spielplätze zum Beispiel, wurden von der Kommunalverwaltung an Investoren verkauft, ohne die Anwohner anzuhören oder zu informieren. Schon malen einige das Schreckgespenst der Gentrifizierung an die Wand: der Politik wäre der Kiez und seine jetzigen Einwohner egal, ihr gehe es nur darum reiche Mieter anzulocken, um die eigenen Kassen zu schonen. Dagegen hat sich unter den Anwohnern Widerstand formiert.

Dass die Sache jedoch nicht ganz so holzschnittartig gesehen werden kann, zeigt sich spätestens, wenn man mit den Investoren spricht. Viele kommen nämlich überhaupt nur, weil sie den Kiez in seiner Unterschiedlichkeit interessant finden. Sie wollen gerade nicht in ein durchgestyltes Yuppi-Viertel investieren, sondern einen Beitrag zur Erhaltung der Vielfalt leisten.

Das sich der Kiez dabei verändert, ist natürlich unausweichlich. Aber es muss nicht immer zum Schlechten sein. Auch viele langjährige Einwohner stören sich an so manchen Gegebenheiten: das Schmuddelimage, die Verbindung zum nahegelegenen Straßenstrich in der Kurfürstenstrasse oder die Trostlosigkeit einiger Ecken.

Die Erschließung der alten Bahnhofsanlagen bietet dem Kiez nun die Chance all dies hinter sich zu lassen und seinen Platz im Herzen einer Großstadt anzunehmen und zu akzeptieren. Der Wandel ist nicht aufzuhalten. Es ist Aufgabe der Politik dafür zu sorgen, dass er nicht in Form einer sozialen Abrissbirne daherkommt, sondern allen einen Platz zum leben lässt. Wie Kolumbus ist die Flottwellstrasse unterwegs in unbekannten Gewässern, um das unentdeckte Land zu finden – die Zukunft. Hoffentlich eine goldene…

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