Geschrieben von HU-Gastbloggerin Lucia.
Eine Geschichte vom Wintergarten zur Potsdamer Straße
Jeder kennt das Gefühl sich auf ein Fahrrad zu setzten und loszufahren, obwohl man ein halbes Jahr nicht gefahren ist. Manche wundern sich auch, warum sie eine unbekannte Melodie summen, welche sie vielleicht zuvor im Auto eines Freundes gehört haben. Unheimlich wird es, wenn man seinen kleinen Regenschirm vor dem Verlassen des Hauses und bei strahlendem Sonnenschein einpackt und am Abend als einziger trocken durch den Regen läuft. Das Phänomen läuft unter der Bezeichnung der unbewussten oder intuitiven Wahrnehmung. Nur was hat das alles mit dem Stummfilm und vor allem der Potsdamer Straße zu tun, fragen sie? Eine ganze Menge!
Zeitreise
Um diesen Zusammenhang vollends zu verstehen, machen wir zuerst eine Zeitreise zum Ende des 19. Jahrhundert in die Friedrichstraße – Ecke Dorotheenstraße. Dort wo heute Rossmann und Butlers die Einkaufspromenade bilden, erbaute man 1888 kurz nach der Eröffnung des Bahnhofs Friedrichstraße, das Central Hotel. Darin befand sich das originale und prachtvolle Wintergarten Varieté Theater. Der Glaspalastsaal mit einer Fläche von 2000 qm bot Zuschauern und Varieté Künstlern eine einzigartige Bühnenfläche, die sehr bald viele berühmte Künstler anzog.
So kam es, dass die prominenten Skladanowsky Brüder am 1. November 1895 die Geburtsstunde des Kinos einläuteten. Dort wo sonst Akrobaten und Schauspieler ihre Stücke darboten, wurden mit Hilfe einer Leinwand und einem Bioscop vor ca. 1500 Zuschauern, 8 verschiedene Kurzfilme gezeigt unter anderem der berühmte Kurzfilm „Das boxende Känguru“.
Der Beginn des Stummfilms war gleichzeitig der Beginn einer neuen musikalischen Disziplin: Die Stummfilmkomposition.
Der Stummfilm erreichte in den 20er Jahren seinen Höhepunkt, in dessen Verlauf viele Filmtheater eröffneten, die durch einen eigenen Stummfilmpianisten, ein ganzes Orchester, einem Pianola oder einem Grammophon musikalische Begleitung zum Film boten. Als einer der größten Klassiker der Stummfilm-Geschichte gilt der politische Film „Das neue Babylon“ aus dem Jahre 1929, zu dem Schostakowitsch die Filmmusik komponierte. In der Musik ist die Unruhe und Revolution der Pariser Kommune deutlich vertont und spiegelt somit eine aufgewühlte Zeit wieder. Die kurze Ära des Wintergartens an der Friedrichstraße endete im Jahre 1944 infolge des zweiten Weltkrieges.
Zurück ins Jetzt
Kommen wir nun zurück in die Gegenwart, ins Jahr 2013, wo der Wintergarten Berlin vor 11 Jahren an der Potsdamer Straße neu eröffnet wurde.
Man könnte denken, die Welt habe sich so rasant weiterentwickelt, dass Stummfilme längst vergessen wurden. Doch 118 Jahre nach der ersten Stummfilmaufführung, hat die wortlose Kunst heute wieder eine zahlreiche, treue Anhängerschaft gefunden. Oberhalb des neuen Wintergartens, im zweiten Stock, befindet sich das Büro Stummfilm Konzert des Komponisten Stephan Graf von Bothmer. Man könnte fast meinen, es hat ihn zurück zur Wurzel des Stummfilms verschlagen, dorthin, wo alles einmal anfing.
Von Bothmer hat es sich zur Aufgabe gemacht, von Klassik bis Pop, Stummfilme live am Klavier zu begleiten. Manchmal sucht er sich auch die Unterstützung durch ein kleines Ensemble, wie er bei dem Dracula ähnlichen Aufführung von Nosferatu. Die Besonderheit ist, dass die Musik jedes Mal eine Andere ist. Stephan legt besonderen Wert darauf, seine Vertonung als Live Komposition zu bezeichnen, was viele als Improvisation betiteln würden. „Improvisation hat etwas mit Beliebigkeit zu tun und das will ich vermeiden“ sagt von Bothmer. Der feine Unterscheid liegt darin, dass er den Kontakt zum Publikum sucht, um die Stimmung des Abends aufzugreifen. Jeder Tag ist ein neuer Tag. Die Stimmung der Aufführung kann nie die gleiche sein, somit muss auch die Musik sich ständig wandeln.
Der Mediator
Stephan sieht sich als eine Art „Mediator“ zwischen Publikum und Film. Er fühlt sich intuitiv in die Atmosphäre des Raumes hinein und leitet davon eine musikalische Übersetzung ab, die er dann mit seiner Interpretation des Films vermischt. Die Bilder im Stummfilm haben für Herrn von Bothmer eine ganz besondere Bedeutung: „Ein Stummfilm ist viel symbolischer als ein Tonfilm, das sind direkte Archetypen. Ich sehe diese Filme als ob sie Träume wäre.“ Er verdeutlicht seine Aussage an der Symbolik des Filmes Nosferatu „Die Frau könnte ein Symbol für die Weiblichkeit sein und der Mann ist das ICH-Bewusstsein und der Vampir die verdrängte Sexualität.“ Aus dieser Erkenntnis lässt sich eine ganz andere Ebene des Filmes hervorbringen, die sich in Kombination mit der Atmosphäre im Publikum neu interpretieren lässt. „Ich kann Aussagen bauen über die Musik.“ Es interessiert Herrn von Bothmer weniger die politischen Hintergründe eines Films in der Musik wiederzuspiegeln, wie Schostakowitsch es in seiner Vertonung tat, sondern die Handlung zwischen den Charakteren und deren symbolischenGehalt zu interpretieren.
Anspruch eine neuen Generation
Die Filme von Bothmer vertont sind alt, allerdings ist sein Musik neue. „Das heutigen Publikum hat fast 80 Jahre mehr Musikerfahrung, als die Komponisten des ersten Stummfilmes es hatten.“ Die Kunst von Bothmer besteht darin einen Bezug zwischen Zuschauern und Film über die Musik zu schaffen. „Die Filme veralten mit ihrer Filmmusik, weil die Sicht auf diese Filme immer gleich bleibt. Wenn die Gesellschaft sich weiterentwickelt dann interessiert sie dieser Blick nicht. Aber ein Film lässt sich durch Musik immer wieder neu interpretieren.“
Geheimnis des Stummfilmes
An dieser Stelle eine kurze wissenschaftliche Exkursion:
Bekanntermaßen löst Musik Gefühle in uns aus. Sie aktivieren das neuronale System für Belohnung und Emotionen, das normalerweise nur durch biologisch relevante Stimulationen wie Nahrung und Sex oder künstlichen Rauschdrogen aktiviert wird. Sehr bemerkenswert in der Hinsicht ist, dass Musik weder für das Überleben noch zur Reproduktion notwendig ist. Zur Vertiefung dieses Themas verweise ich auf das Buch Musik und Emotionen. Ein weiterer Aspekt ist die Verarbeitung von Musik im Gegensatz zur Sprache. Musik wird unbewusst oder implizit aufgenommen. Der Mensch ist in der Lage pro Sekunde 11. 000.000 Bits (Maßeinheit für den Informationsgehalt) aufzunehmen. Hiervon nehmen wir allerdings nur rund die Hälfte bewusst wahr. Die Sprache, die bewusst oder explizit wahrgenommen wird, schafft im Gegensatz dazu nur 40-50 Bits pro Sekunde. Wir gewinnen demnach aus der intuitiven oder impliziten Wahrnehmung (Musik) mehr Wissen, als bei der bewussten und linearen Verarbeitung von Information über Schrift oder Sprache.
Ähnlich nehmen wir Bildabfolgen wahr. In der Werbung werden in Form von Bildern ein Reize subtil oder subliminal ausgelöst, den wir nicht bewusst wahrnehmen sondern unbewusst. Trotzdem lässt sich nach einer wissenschaftlichen Kontrolluntersuchungen verifizieren, dass die Botschaft des Werbebildes aufgenommen wurde. Langsam löst sich also die Frage, was der Stummfilm mit dem Phänomen des Fahrradfahren und der Intuition zu tun hat. Anders als der Tonfilm beinhaltet der Stummfilm nämlich ausschließlich die Komponenten Musik und Bilderabfolge. Durch die Wortlosigkeit nehmen wir unbewusst die Bilder wahr und lassen die Musik ebenfalls implizit auf uns wirken. Somit sind wir viel aufnahmefähiger für Information als beim Kinobesuch besuch mit Dolby Surround System.
„Ich feuere eben mit beiden Kanäle – Musik und Film – über den impliziten Kanal und das kann zu Rauschzuständen führen. Das berichtet das Publikum auch ‘Ich war wie im Rausch‘.“ Wir bedienen gleich doppelt das neuronale System der Belohnung und Emotion und können daher ganz natürlich in eine Art Rausch-Gefühl verfallen beim Hören und Sehen eines Stummfilmes.
Standing Ovation zum Finale
Hieraus entsteht eine authentische und transzendente Aufführung die speziell für das Publikum live angefertigt wird und den Zuschauer in eine verwunschene Wirklichkeit eintauchen lässt. Stephan von Bothmer hat nun das außergewöhnliche Talent, den Aspekt der intuitiven Wahrnehmung und die des logischen Wissen von Musik, Gesellschaft, Symbolik und Psychologie zu vernetzen und eine ganz neue und einmalige audiovisuelle Darbietung zu bewirken. Misst man den Erfolg an Besucherzahlen, liegt Stummfilm Konzert unverwunderlich ganz weit oben. Über 50.000 Besucher haben in den letzten Jahren international an den Events teilgenommen, mit einem Programm von über 100 neu vertonten Filmen. Wenn der erfolgreiche Stummfilmkomponist von Bothmer nicht gerade in Kolumbien oder den Philippinen Meisterkurse leitet, kann man ihn auch in Deutschland live erleben.
Wer mehr über aktuelle Stummfilm Aufführungen wissen will, insbesondere wann und wo man den Künstler live erleben kann sollte sich auf Stummfilm Konzert über anstehende Termine informieren. Die nächste Vorführung in Berlin, Eine Filmreise durch den Menschenkörper findet am 30. und 31. Mai in der Urania statt. Wen die Neugier gepackt hat, sollte sein ganz eigenes und intuitives Stummfilmerlebnis unter keinen Umständen verpassen.