Von HU-Gastblogger Ulrich
Die Gertrud-Kolmar-Bibliothek in der Pallasstr. 27 blickt auf eine über hundertjährige Geschichte zurück und gehört zu den wichtigsten Bildungseinrichtungen im Schöneberger Norden. Durch den Ausbau ihres interkulturellen Angebots konnte sie ihre Besucherzahlen in den vergangenen Jahren erheblich steigern. 2012 wurde ihre geplante Schließung vorerst abgewendet, ihr Erhalt ist jedoch weiter vom kommunalen Sparwillen bedroht. „Ist eine dezentrale Bibliothek in einem Gebiet wie dem Schöneberger
Norden notwendig? Ich sage ja, weil man nur hier Kinder und Jugendliche fürs Lesen gewinnen kann, nicht in den Zentralbibliotheken“, sagt Quartierst Bertram von Boxberg. Er empfiehlt auch unkonventionelle Massnahmen der Solidarität.
Ein Aufzug führt in die Bibliothekshalle im zweiten Stock: Ein rund 400m2 großer Raum mit acht Meter hohen Fenstern, die ehemalige Aula der Sophie-Scholl-Oberschule. Etwa ein Viertel des Raums nimmt der lichtdurchflutete Kinderbereich mit Sofas und Spielecke ein, im anderen Bereich finden sich neben den Bücherregalen Computerplätze und vor allem zahlreiche Tische, an denen nachmittags die Schüler der umliegenden Schulen lernen können. Die Wände schmücken farbenfrohe Bilder- eine Kunstausstellung des benachbarten Schülerladens Tigertatzen.
1909 wurde die Stadtbibliothek Schöneberg Nord als Zweigstelle der Volksbücherei Schöneberg gegründet, im zweiten Weltkrieg wurde sie durch Bombenangriffe vollständig zerstört. Nach dem Krieg eröffnete sie neu in den Räumlichkeiten der Sophie-Scholl-Oberschule. 1999 kam die Bibliothek in einem Festakt zu ihrem heutigen Namen. Gertrud Kolmar ist das Pseudonym der Berliner Lyrikerin und Schriftstellerin Gertrud Käthe Chodziesner, die 1943 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wurde. In der NS-Diktatur konnte die jüdische Dichterin ab Ende der dreißiger Jahre nicht mehr publizieren, ein großer Teil ihres Werks wurde erst posthum veröffentlicht. Heute schätzt man sie als eine der wichtigsten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts.
Abgestimmt auf den hohen Anteil von Schülern und Erwachsenen mit Migrationshintergrund im Schöneberger Norden finden sich in der Kolmar-Bibliothek zahlreiche Medien in türkischer, arabischer, russischer und neuerdings auch polnischer Sprache sowie ein großes Angebot an Medien zum deutschen Spracherwerb. Durch den Ausbau interkultureller Angebote und Aktionen – zwischenzeitlich gab es auch einen arabisch sprechenden Sozialarbeiter – konnten die Besucherzahlen seit 2007 fast verdoppelt werden.
„Wir haben eine große Nachfrage bei PCs, die gerade von Schülern der Sophie-Scholl-Oberschule viel genutzt werden“, sagt die neue Bibliotheksleiterin Frau Arndt. „Auch die Hausaufgabenhilfe, die drei Mal in der Woche angeboten wird, wird stark genutzt. Außerdem haben wir Lesepaten, die bei uns vorlesen, Kita- und Klassenführungswochen, ein Bilderbuchkino und einiges mehr. Nächstes Jahr beteiligen wir uns mit Veranstaltungen an einem Projekt zur Sprachförderung von Kita-Kindern im Kiez.“ Die ganze Arbeit lastet trotz der nun erweiterten Öffnungszeiten auf den Schultern einer Bibliothekarin und einer Angestellten.
Seit der Wendezeit gibt es durch den sich verstärkenden kommunalen Sparzwang einen Trend zur Schließung von Stadtteilbibliotheken zugunsten der großen Zentralbibliotheken. „Kinder und Jugendliche sind aber eher nicht in der Lage, entferntere Zentralbibliotheken zu erreichen“, sagt Frau Arndt. Damit tut sich ein Widerspruch in der Politik auf zwischen der geäußerten Forderung nach mehr Bildung und Integration und der tatsächlichen Schließung kleiner Einrichtungen, die diesen Forderungen mit viel Engagement nachkommen. Auch macht die Berliner Regierung bisher keine Anstalten, ein Bibliotheksgesetz einzuführen, das ein ausreichendes Bibliotheksangebot zur kommunalen Pflichtaufgabe macht.
Auch die Kolmar-Bibliothek wäre 2012 fast vom Sparzwang getroffen worden. Ein Bibliothekskonzept sah die Schließung für 2012 vor, obwohl für die Bücherei aufgrund ihres Standorts in einer Schule nur minimalste Infrastrukturkosten aufgewendet werden müssen – etwa 6000 Euro Stromkosten im Jahr. Dieser ursprüngliche Bibliotheksplan traf allerdings auf starke Proteste und ist nun vom Tisch. Jetzt gibt es ein Moratorium von zwei Jahren, bis Stadträtin Kaddatz weiter entscheiden wird.
Ein Kiezvideo über die Bücherei (2010)
Schaut man sich das Bibliothekskonzept des Bezirksamts Tempelhof-Schöneberg an, finden sich darin diverse Kosten-Nutzen-Rechnungen, in denen ermittelt werden soll, welche Bibliotheken ausreichend rentabel sind. „Die Bibliotheken werden geführt wie eine Currywurstbude. Es wird nur auf die Einnahmen und Ausgaben, auf die Zahl der Besucher und der Ausleihen geachtet. Bei der Bewertung, ob eine Bibliothek erhalten werden muss, spielt der Standort, die Bedeutung als Bildungseinrichtung keine Rolle. Es gibt keine Rücksichtnahme auf soziale Problembezirke“, sagt Quartiersrat Bertram von Boxberg. Ein Grund für die aus Sicht des Bezirksamts immer noch zu niedrigen Ausleihzahlen ist beispielsweise, dass gerade die türkisch- und arabischstämmigen Kinder und Jugendlichen die Bibliothek nachmittags zwar häufig nutzen, aber selten Bücher mit nach Hause nehmen. Solche Tatsachen passen aber in keine Kosten-Nutzen-Rechnung, die rein fiskalisch orientiert ist.
Wenn der Erhalt einer Bibliothek mehr von Ausleihzahlen abhängt als von ihrer lokalen Integrationsleistung, ist Kreativität gefragt. Im Mai 2013 führte Bertram von Boxberg die Solidaritätsaktion „Lesen und leihen“ durch- statt Geld zu spenden, sollten die Teilnehmer Bücher entleihen. „Jeder kann sich bis zu 60 Bücher ausleihen – und notfalls auch gleich wieder zurück geben.“ Durch die Aktion wurden an einem Nachmittag rund 3500 Bücher ausgeliehen. Damit wurde dem Abrechnungssystem ein Schnippchen geschlagen, denn pro ausgeliehenem Buch werden der Bibliothek 1,40 Euro gutgeschrieben.
Daneben gibt es von Seiten der Bibliotheksangestellten und des Quartiersrats natürlich weiter Überlegungen, wie man die Besucherzahlen verbessern kann, etwa durch eine Neukonzeption des Bestandes, die sich noch klarer auf das Zielpublikum von Kindern und Jugendlichen fokussiert, das wäre zum Beispiel die Anschaffung von mehr berufsvorbereitender Literatur und ein Ausbau der internationalen Bibliothek. Auch will Frau Arndt weiter die Zusammenarbeit mit Schulen und Kitas vorantreiben.
Es bleibt die Frage, welches Konzept das Bezirksamt nach Ablauf des Moratoriums vorlegen wird. Droht dann erneut die Schließung? Bertram von Boxberg hat noch eine andere Befürchtung: „Da der Widerstand der Bürger gegen eine Schließung sehr groß ist, wird das neue Bibliothekskonzept des Bezirksamts vielleicht auf Privatisierung hinauslaufen, so wie das schon bei diversen Jugendeinrichtungen passiert ist. Das wäre aber ein aus der Verantwortung stehlen, weil ein privater Investor jederzeit den Laden dicht machen könnte.“