„Jeder Stoff kann als Comic erzählt werden“

Von HU-Gastbloggerin Dolly Rodríguez

Bülowstraße 52: Ehemaliger Sitz von Reprodukt

Ein unscheinbares Haus in der Gottschedstraße 4 in Berlin beherbergt einen Sehnsuchtsort für alle Liebhaber der visuellen Erzählkunst, ein Mekka für all diejenigen, für die Comics weit mehr sind als eine Kindheitserinnerung an Entenhausen.

Ich möchte an dieser Stelle jeglichen Anspruch auf Neutralität zurückweisen und stattdessen offen bekennen: Ich liebe Comics. Ich liebe sie, weil in ihnen das Unmögliche möglich wird: Sie können mich durch ihre Graphik und ihre Story in eine andere Welt transportieren.

Und deshalb ist dieses unscheinbare Haus für mich ein ganz besonderer Ort, beherbergt es doch mit Reprodukt einen der vielseitigsten Comicverlage Berlins. Aber nein, es geht dabei nicht um die üblichen Comics, wie man sie an der Supermarktkasse oder am Kiosk findet.

Wovon ich rede, ist die inzwischen gar nicht mehr so kleine aber feine Sparte der Comics, die sich als literarische Comics oder Graphic Novels begreifen. Die Graphic Novel ist heutzutage das beliebteste anspruchsvolle Comicprodukt, das in den Buchhandlungen (zumindest in den großen) einen festen Platz erobert hat.

Dass die Comicszene heute so vielfältig und bunt erscheint, ist der raschen und nachhaltigen Entwicklung der Independent Comic-industrie zu verdanken, die seit Anfang der neunziger Jahren vor allem in Europa und in den USA immer neue Themen, Stile und Darstellungsformen entdeckt hat.

Und das Spektrum ist im Laufe der Jahre richtig groß geworden: Der Comic ist nunmehr ein Medium des Theaters, des Dramas, der (Auto-)Biographie, der Geschichte, der Reportage, der Lyrik usw. Es scheint dabei, dass alle Themen und Genres durch den Comic ausgedrückt werden können. Dieser Meinung ist auch Jutta Harms, Pressefrau des Verlags: „Die Möglichkeiten des Textes kann der Comic völlig ausschöpfen, in den Graphic Novels sind die Themen genauso vielfältig wie in der Literatur.“

Comics erfreuen sich in den letzten Jahren einer wachsenden Popularität und Reprodukt hat es geschafft, von dieser Entwicklung zu profitieren. So feiert der Verlag dieses Jahr sein 25-jähriges Bestehen, wobei er sich mittlerweile als renommierter unabhängiger Verlag etabliert hat, der den Comic nicht mehr  nur als reines Unterhaltungsprodukt versteht. Diese lange, andauernde Entwicklung hat Reprodukt in Deutschland und Europa hautnah miterlebt:

„In den Neunzigern Jahren kam es zu einer Vervielfältigung der Stories und zu einer Weiterentwicklung in der graphischen Darstellung. Dabei hat man sich den Lebenserfahrungen der Menschen zugewendet und sich von den klassischen Science Fiction Stories entfernt. Auch werden seit dieser Zeit immer mehr weibliche Zeichnerinnen und Autorinnen aktiv. Die Erscheinungsform des Comics hat sich vom klassischen Unterhaltungscomic unglaublich ausdifferenziert. Seither gilt die Idee, dass jeder Stoff als Comic erzählt werden kann“ berichtet Jutta Harms.

Der Erfolg von Reprodukt als unabhängigem Verlag beruht vor allem auf seinen Bestsellern: der Fantasyparodie Donjon von Joann Sfar und Lewis Trondheim, Didi und Stulle von Fil, Tamara Drewe von Posy Simmonds und neulich Baby’s in Black-The Story of Astrid Kirchherr & Stuart Sutcliffe von Arne Bellstorf, das bereits zwei Monate nach seiner Erscheinung im Oktober 2010 nachgedruckt werden musste. Gemeinsam ist ihnen, dass sie dem Mainstream fern bleiben und dass sie durch ihre eigenwilligen Geschichten ein breites literarisches Publikum ansprechen.

Aber warum sind sie so erfolgreich? Was macht einen guten Comic aus? „Es gibt natürlich Qualitätsansprüche. Der Comic muss erzählerisch und graphisch gut sein, er muss originell sein, sich also von den Action-Stoffen aus der Retorte abgrenzen, und die Zeichnung muss mit der Story harmonieren“, so Harms.

Bestseller 2010: Baby’s in Black von Arne Bellstorf

Ein gutes Produkt setzt harte Arbeit voraus: Lektorat, Übersetzung (im Fall von fremdsprachigen Werken), Herstellung, Bildbearbeitung und Lettering erfordern mindestens vier Monate Zeit und natürlich eine gute Teamarbeit, denn nur im Zusammenspiel der einzelnen Arbeitsbereiche kann ein wirklich guter Comic entstehen.

Da sich im Comic Bildende Kunst und Literatur überschneiden und ergänzen, entstehen dabei auch neue Möglichkeiten den Leser mit einer Geschichte zu erreichen: „Vergleichen wir z.B. eine Comicbiographie mit einer herkömmlichen, so ergibt sich in der ersteren die Chance, den Inhalt durch das Visuelle so zu transportieren, dass eine andere Sinnesebene angesprochen wird“, meint Harms abschließend.

Und wer einmal die Comicbiographie Die anderen Mendelssohns 1 von Elke Steiner gelesen hat wird sehr gut nachvollziehen können, was damit gemeint ist.

Mehr über die Geschichte von Reprodukt erfahren Sie unter http://www.kultiversum.de/Literatur-Literaturen/handeln-Buchmacher-Comic-Reprodukt-Verlag-Berlin-Dirk-Rehm-Jutta-Harms.html?

Grafik: Auszüge aus „Acht, Neun, Zehn“ ©Reprodukt/Arne Bellstorf sowie „Am falschen Ort“ ©Reprodukt/Brecht Evens; Cover von „Baby’s in Black-The Story of Astrid Kirchherr & Stuart Sutcliffe“ ©Reprodukt/Arne Bellstorf

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