Es liegt in der Natur des Gewerbes, dass die Arbeit der sozialen Dienste an der Kurfürstenstraße und Umgebung langfristig angelegt sind. Den Straßenstrich im Gebiet gibt es schließlich seit mehr als 100 Jahren. Er hat viele Veränderungen hinter sich und vielem widerstanden.
In den letzten Jahrzehnten ist es Organisationen wie dem Frauentreff Olga, der Treberhilfe, Fixpunkt, der Mittwochsinitiative der Zwölf Apostel Kirche und Neustart e.V. gelungen, einen vertrauensvollen Kontakt ins Milieu aufzubauen. Da sie alle unterschiedliche Schwerpunkte haben, ist es ihnen gemeinsam ist es zu verdanken, dass die Umgebung trotz aller Schwierigkeiten ein relativ konfliktfreies Feld ist.
EU-Erweiterung
Gleichzeitig waren alle trotz ihrer reichen Erfahrung von den Konsequenzen der EU-Osterweiterung im Jahr 2005 überrascht. Der Kurfürstenstraße brachte diese politische Veränderung einen hohen Anstieg an Prostituierten, einen anschließenden Preis- und Verdrängungskampf, Schwierigkeiten mit den AnwohnerInnen und ein Kommunikationsproblem. Denn die Frauen verstanden kein Deutsch. Die Sozialarbeiterinnen hingegen, konnten sich weder auf polnisch, noch auf ungarisch, rumänisch oder bulgarisch verständlich machen. Doch inzwischen ist auch hier viel geschehen.
Frauentreff Olga
Der Frauentreff Olga, zum Beispiel, erhielt seit seinem Umzug von der Derfflinger Straße in die Kurfürstenstraße ein neues Profil. Seit über 20 Jahren ist Olga eine Anlaufstelle für Prostituierte, wo sie Essen, Gespräche, medizinische Versorgung und eine Verschnaufpause erhalten. „Wir haben das Olga völlig neu aufgestellt,“ sagt die stellvertretende Leiterin des Drogennotdienstes Petra Israel-Reh. „In der Derfflinger Straße kamen 20 – 30 Frauen pro Abend, hier in der Kurfürstenstraße sind es 40 bis 70 Frauen.“
Olga gründete ein Kommunikationszentrums, was durchaus wörtlich zu verstehen ist. Zum einen wollten sie den Prostituierten im Frauentreff die Möglichkeit geben, mit ihren Familien zu Hause per Telefon und Internet in Kontakt zu bleiben. Zum anderen wollten die Sozialarbeiterinnen mit den Frauen auf Deutsch kommunizieren und boten deshalb Sprachkurse an.
Doch die Rechnung ging nicht auf, die Frauen kamen weiterhin ins Olga, aber nicht zum Sprachkurs. Das Projekt musste an die Wirklichkeit angepasst werden. Zumal den polnischen Frauen andere aus aus der Tschechischen Republik, Ungarn, Bulgarien und Rumänien gefolgt waren.
„Wir arbeiteten wie die Feuerwehr,“ erinnert sich Michaela Klose, seit 2008 Leiterin des Frauentreffs. „Immer wieder mussten wir raus, um kleine Brände zu löschen. Wir hatten nur wenige Arbeitsstunden. Die Frauen hatten Angst vor uns. Sie konnten nicht glauben, dass wir ihnen wirklich helfen, sie nicht ausbeuten oder der Polizei ausliefern wollten.“
Sprachmittlerinnen
Mit Hilfe der Quartiersmanagements und der Quartiersräte in Schöneberg-Nord und Magdeburger Platz wurde ein Projekt aufgelegt, bei dem die Sozialarbeiterinnen gemeinsam mit Sprachmittlerinnen auf die Straße gingen, um mit den Frauen in Kontakt zu kommen. Neben rechtlichen und gesundheitlichen Fragen, machten sie den Frauen auch klar, dass die Kurfürstenstraße ein Wohngebiet ist, baten sie, sich nicht genau vor den Kindergärten und der Moschee zu positionieren und die Werbung nicht rabiat zu gestalten. Dadurch entspannte sich die Sitaution im Kiez merklich.
Doch die finanzielle Situation fürs Olga blieb mehr als prekär bis endlich – mit Hilfe aus dem Bezirksamt Mitte – das Thema auf Senatsebene gehoben werden konnte und eine finanzielle Bewilligung über den Fraueninfrastrukturfonds die Arbeit nun auf mehrere Jahre sichert.
UnterstüzterInnen
Im April nun lud der Frauentreff Olga all diejenigen ein, die den Treffpunkt in den letzten Jahren finanziell, beraterisch, ideell und politisch unterstützt haben. Dazu gehört neben dem Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg vor allem das Bezirksamt Mitte mit Bürgermeister Dr. Christian Hanke und der Gleichstellungsbeauftragten Kerstin Drobick. Ebenfalls anwesend war die SPD-Bundestagsabgeordnete von Berlin-Mitte, Dr. Eva Högl, die seit neuestem Vereinsmitglied bei Olga ist. Weiterhin vertreten waren die sozialen Träger, die Präventionsbeauftragte von Schöneberg und VertreterInnen des Quartiersmanagements und Quartiersrates Magdeburger Platz.
Der Frauentreff bedankte sich auf ungewöhnliche Weise und mit sehr viel Offenheit. Michaela Klose nahm uns zunächst auf einen imaginierten Spaziergang mit. So hatten wir Gelegenheit, indirekt einige Prostituierte kennen zu lernen, denen wir sonst nur anonym und fremd auf der Straße begegnen.
Spaziergang
In Gedanken gingen wir die Frobenstraße entlang und vor zur Potsdamer Straße, vorbei an Prostituierten, die häufig Drogen nehmen. Vor dem LSD wurden uns die circa 15 bulgarischen Frauen vorgestellt, die dort regelmäßig stehen. Sie sind zwischen 30 und 40, arbeiten teilweise mit Zuhältern, teils mit Beschützern. Sie haben Probleme mit ihrer steuerlichen Anmeldung, versorgen zu Hause ihre Familien und Kinder. Manche von ihnen sind drogenabhängig, andere nicht.
Uns wurde gesagt, dass auf der anderen Straße häufig eine deutsche Prostitutierte von den Sozialarbeiterinnen angetroffen wird. Sie arbeitet seit drei Jahren hier, ist obdachlos, ihr geht es körperlich schlecht, sie ist Mehrfachkonsumentin von Drogen. In Gesprächen bei Olga wird ihr die Begleitung durch den Entzug oder in ein Methadonprogramm angeboten. Langsam ist das Olga für sie ein fester Anlaufpunkt geworden und vertrauensvoll hat sie sich auf einen HIV und Hepatitis Test eingelassen und auch einer Impfung zugestimmt.
Eine Ungarin lernten wir duch die Erzählung einer Sprachmittlerin kennen. Sie ist 42 Jahre und sehr glücklich, dass ihr hoher Blutdruck in der medizinischen Abteilung bei Olga versorgt wird. Eine Freundin hat sie ursprünglich ins Olga gebracht. Doch hätte die Sprachmittlerin sie nicht in ihrer eigenen Sprache angesprochen, hätte sie diesen Schritt wohl nie getan.
Eine 21-jährige Ungarin hat dieses Vertrauen noch nicht gefasst. Sie ist erst vor vier Monaten hier angekommen. Sie spart ihren Verdienst, denn sie will studieren und Tierärztin werden. Ihr Freund in Ungarn glaubt, sie kellnert. Es ist nicht sicher, ob sie Drogen nimmt. Sie ist froh über den Kontakt zur Sprachmittlerin. Doch ins Olga hat sie sich bisher noch nicht getraut.
Es ist klar zu sehen, dass es allen Mitarbeiterinnen des Olgas wichtig ist, nicht nur ÜBER sondern MIT den Frauen zu reden. Um dies auch den Gästen zu ermöglichen, waren an diesem Vormittag auch drei Prostituierte ins Olga gekommen. Sie wurden vor den Gästen interviewt und waren hinterher zu weiteren Gesprächen bereit. Hier sind ihre Aussagen:
O-Töne
Jessica: ich arbeite seit 1983 hier. Früher hab ich das Geld für Fun, Urlaub und Luxusgüter ausgegeben. Heute reicht das Geld gerade zum Überleben. Ins Olga komme ich seit 15 Jahren. Ich hörte davon über Mundpropaganda und war begeistert, dass es dort Gummis umsonst gab. Das war damals nicht selbstverständlich. Auch Angelika, die Krankenschwester, kenne ich seitdem. Ihre Versorgung war ganz wichtig, denn wir bekamen nur schwer eine Versicherung. Mein Vorschlag ist, einen Runden Tisch hier einzurichten, denn die Feindschaft zwischen den Frauen ist zur Zeit sehr groß. Als Politikerin würde ich dafür sorgen, dass die Polizei das Zuhälterproblem anders angeht. Die Frauen hier stehen sehr unter Druck, sie passen sich zu sehr an. In fünf Jahren bin ich nicht mehr hier. Es ist nicht mehr, wie es war. Das verruchte, schöne Feeling gibt es nicht mehr. In fünf Jahren arbeite ich selbstständig in einer Kaffeebar.
Svenja: Ich kam vor zwei Jahren hierher, ein Jahr nach meiner Schwester. Ich bin hier um Geld zu verdienen für meine Familie, die Wohnung. Vor zwei Jahren hat mir ein tschechisches Mädchen vom Olga erzählt und ich komme hierher, weil man hier offen reden kann. Ich schlage vor, eine Frauenärztin hierher zu holen, denn es gibt keine im Gebiet. Als Politikerin würde ich viel mehr Gewicht auf die gesundheitliche Untersuchung legen. Viele benutzen kein Kondom, doch es ist wichtig sich zu schützen. Die Polizei sollte das kontrollieren.
Bis hierher hatte Svenja teilweise selbst Deutsch gesprochen, war jedoch auch in vielem auf die Hilfe der Sprachmittlerin angewiesen. Doch auf die Frage wo sie sich in fünf Jahren sieht, antwortete sie mit einem kleinen Aufseufzer und ohne zu überlegen: „Zu Hause.“
Gabriela: Als ich 1979 hierher kam, war ich mit 12,5 Jahren die jüngste Prostituierte Berlins. Ich suchte nach Liebe. Zu Hause war ich vergewaltigt worden und bin abgehauen. Ich kenne den Kiez hier ganz anders. Wenn sich früher rumsprach, dass eine Frau ohne Kondom arbeitete, dann ist ihr zugesetzt worden. 1.000 Mark am Tag zu verdienen war möglich, und ich baute mir eine Scheinwelt auf, nahm viele Drogen und dachte es ist Liebe, was ich hier finde. Jetzt schaffe ich nicht mehr an. Ich habe Jesus Christus getroffen und es geht mir von Tag zu Tag besser. Ich erlebe viele Wunder, die Leute sind nett zu mir. Morgen beginne ich in Hessen eine Therapie in einer christlichen Einrichtung. Ich selbst habe nie mit Zuhältern gearbeitet und habe mir nie etwas von Männern gefallen lassen. Ich hatte hier Narrenfreiheit, musst nie an irgendjemanden zahlen. Ich war nie der Opfertyp. Doch andere lassen sich viel zu viel gefallen. In fünf Jahren bin ich wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ich bin ehrgeizig und kann mich selbst gut vertreten. Aus der Scheinwelt gehe ich wieder in die Welt.
Kreativität
„Uns sind hier alle Frauen mit all ihren Lebensfacetten willkommen,“ sagt Michaela Klose, „und seit neuestem auch mit ihrer Kreativität.“ Denn die entdecken die Frauen seit Ende 2008 gemeinsam mit Anita Staud. Die Malerin hat seit 15 Jahren ein Atelier an der Potsdamer Straße und dachte während des Streits um das geplante Laufhaus zum ersten Mal an ein Projekt mit Prostituierten. Kurz vor Weihnachten 2008 ging sie das ersten Mal mit Stift und Malblock ins Olga und kam dann drei Monate regelmäßig wieder. Jedes Mal tat sie nicht anderes, als sich ruhig dazu zu setzen und die Frauen in einem Malbuch zu skizzieren.
„Sie fanden es ganz toll, als Individuen wahrgenommen zu werden,“ erinnert sich Anita Staud. Schließlich wollten die Frauen selbst malen, und als dies sich als nachhaltiger Wunsch und nicht als Eintagsfliege entpuppte, wurde ein Projekt daraus.
Zu Beginn mit zwei Papierrollen auf den Tischen. Wer mit am Tisch saß, konnte malen, einfach nur zuschauen, sich an der Unterhaltung teilnehmen. Im Frühsommer 2009 ging Anita Staud mit den Frauen zum Elisabeth-Stift in der Lützowstraße und sie beteiligten sich an dem lokalen Gemeinschaftsprojekt „Kiezmosaik“. Im Herbst inszenierten sie im Rahmen der Schaufensterausstellung im Sexkaufhaus LSD eine Malaktion im Schaufenster. Hier gestaltete Anita Staud ein Fenster mit ihren eigenen Bildern und Skizzen einiger Frauen.
Inzwischen bringen die Frauen eigene Wünsche und Ideen ein. Anita Staud sieht sich mehr und mehr als Anleiterin, als Vermittlerin von Kunstfertigkeit. Zur Zeit steht das Zeichnen von Mandalas im Vordergrund und alle dürfen gespannt sein, was sich als nächstes entwickelt.
Ausblick
Doch neben diesen kreativen Ruhepausen vergessen weder die Prostituierten noch die Sozialarbeiterinnen im Olga die Welt draußen. Dort bleibt noch eine Menge zu tun. In den nächsten Wochen sollen alle Prostituierten im Gebiet direkt angesprochen werden. Herausgefunden werden soll, welche Drogen an der Straße im Spiel sind. Mittelfristig soll der Kontakt zu helfenden Organisationen in den Heimatländern aufgebaut werden.
Gleichzeitig möchte Olga den Frauen Berufsalternativen aufzeigen. Dafür sind die Ausbildungsstände abzufragen. Wünschenswert ist auch ein Runder Tisch, an dem die Themen Konkurenz und Verdrängung der Frauen untereinander zur Sprache gebracht werden.
Und es soll weiter daran gearbeitet werden, die Anliegen und Besorgnisse der AnwohnerInnen im Bewusstsein der Prostituierten zu verankern. Nur so besteht eine Chance, die immer wieder auftretenden Konflikte zu lösen und das gegenwärtig funktionierenden Nebeneinander zu noch mehr gegenseitigem Respekt und Verständnis zu bringen.