Schlagwort-Archiv: Gedenken

Die Musikerin und der Hausbesetzer – Gehweggedenken und Stolpersteine im Süden der Potsdamer Straße

Artikel von Gastblogger Bernhard, geschrieben im Rahmen des Sommerkurses 2012 “Online-Journalismus – Recherchieren und Bloggen” am Career Center der Humboldt Universität.

Der Gehweg erzählt Geschichten. In der Gegend um den Südteil der Potsdamer Straße die von Maria Leo und Klaus Jürgen Rattay.
Sie war eine Musikerin aus Leidenschaft, er ein Berliner Hausbesetzer. Es trennt beide ein halbes Jahrhundert, doch verbindet sie ein Idealismus, der sie dazu brachte, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen – und der Ort ihres Gedenkens.

Seit Juni 2006 erinnert ein von der Leo Kestenberg Musikschule in Auftrag gegebener Stolperstein in der Pallasstraße 12 an Maria Leo. Hier hatte sie gelebt und gearbeitet.
Bereits in seinem Todesjahr wird ein an Klaus Jürgen Rattay erinnernder Gedenkstein von Unbekannten angebracht, und unerwartet von offizieller Seite nicht wieder entfernt.

Manchmal bleibt jemand stehen um die Namen zu lesen, meist jedoch nicht. Das bedeutet aber nicht, dass Gedenksteine sinnlos wären.
„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“ lautet das Motto des Stolpersteinprojekts. Die Hauptauseinandersetzung mit der Geschichte und den Menschen, denen gedacht werden muss, findet nicht durch zufällig vorbeilaufende Menschen statt, sondern in der Vorbereitung und dem Akt des Verlegens an sich. Die Gedenksteine stehen symbolisch für die Erkenntnis, dass Erinnerung und Gedenken nichts ist, was von oben verschrieben werden kann, sondern etwas ist, das in persönlicher Auseinandersetzung und Engagement erarbeitet werden muss.

Maria Leo – Ein Stolperstein für eine Musikpädagogin

Frage ich Menschen, die an den Gedenktafeln vorbeigehen, ob sie diese bemerkt hätten oder sogar etwas über die Personen, denen gedacht wird, wüssten, so lautet die Antwort meist nein. Viele bemerken sie nicht einmal, wenn sie darüber stolpern.
Das ist schade, denn hinter jedem Stein steht eine eigene Geschichte.

Die 1873 geborene Maria Leo war in ihrem Leben vieles. Studentin, Frauenrechtlerin, Seminarleiterin und Lehrerin.Vor allem aber war sie Pianistin und Musikpädagogin.Stolperstein Pallasstr 12 (Schön) Maria Leo
Als Leiterin eines Musikseminars sorgte sie dafür, dass auch Frauen Zugang zu qualifizierter Ausbildung erhielten, die ihnen das Institut für Kirchenmusik in Berlin versagte.
Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten verlor sie durch antisemitische Gesetzgebungen alle Anstellungen und Ämter, am Ende sogar ihren Pass, was ihr eine Ausreise unmöglich machte.
Um einer Deportation nach Theresienstadt zu entgehen setzte sie 1942 ihrem Leben ein Ende.

Stolpersteine wie der, der an Maria Leo erinnert wurden ursprünglich vom Begründer des Konzeptes, Gunter Demnig, auf eigene Faust verlegt. Heute ist das Gedenkkonzept offiziell anerkannt und hat Ausmaße angenommen, die eine einzelne Person längst nicht mehr bewältigen kann.
Deshalb unterstützt uns hier in Tempelhof-Schöneberg seit zwei Jahren das Oberstufenzentrum Bautechnik aus Spandau mit seinen Schülern und projektbegleitenden Lehrern bei der Verlegung der Steine “ erklärt Hannelore Emmerich von der AG Stolpersteine des Schöneberger Kulturarbeitskreis e.V.
Stolpersteine sind nicht nur eine Inschrift, sondern auch Symbol: Da sie aus Messing gemacht sind laufen sie mit der Zeit an. Sie müssen regelmäßig wieder aufgearbeitet werden und stehen sinnbildlich für eine Vergangenheit, die nicht vergessen werden darf sondern immer wieder aktiv erinnert werden muss.
Trotz parteipolitischer und rechtlicher Anerkennung des Projekts werden Entscheidungen, für wen und wo Stolpersteine verlegt werden nicht von oben getroffen. Es sind im Gegenteil Einzelpersonen, Hausgemeinschaften, Vereine, Schulklassen und in Schöneberg zu 40 Prozent Angehörige, die einen Stolperstein beantragen.
Hinter einem Stolperstein steht also das Interesse und vor allem das persönliche Engagement von Menschen, die sich intensiv mit der Vergangenheit auseinandersetzen wollen. Denn zum Beantragen eines Stolpersteins reicht es nicht aus, diesen lediglich zu bezahlen. Es ist eine intensive Recherche zu den Personen notwendig, denen gedacht werden soll.

Klaus Jürgen Rattay – Erinnerung an einen Hausbesetzer

Klaus Jürgen Rattay starb am 22. September 1981 mit gerade mal 18 Jahren.
Begeistert von der Energie, Solidarität und gemeinsamen Arbeit, die einer als ungerecht und nicht sozial empfundenen Wohnungsmarktpolitik entgegengesetzt wurde schloss er sich der Berliner Hausbesetzer_innenbewegung an. Bei einer Demonstration gegen Räumungen und den damaligen Innensenator Lummer werden die Protestierenden von der Polizei auf die nicht gesperrten Potsdamer Straße gedrängt.
An der Kreuzung Potsdamer Straße/Bülowstraße wird Klaus Jürgen Rattay von einem Bus frontal angefahren und stirbt.
Ermittlungen finden nicht wirklich statt und bis heute wurde niemand für den Tod zur Verantwortung gezogen.
Gedenktafel Potsdamer Str 127 (Schön) Klaus Jürgen RattayDer Gedenkstein für Klaus Jürgen Rattay wurde spontan als direkte Reaktion auf den Tod des Hausbesetzers verlegt und ist gleichzeitig politischer Protest. Auch wenn nicht genau klar ist, wer den Stein angebracht hat, lassen sich ein paar allgemeine Aussagen darüber treffen.
Im Gegensatz zu Stolpersteinen, denen eine intensive Recherche und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vorausgeht entsprang Rattays Gedenkstein einer gelebten Gegenwart.
Dies ist auch in der Form des Steines sicht- und spürbar. In Form eines Kreuzes wurden Steine aus dem Gehweg entfernt. Das Loch wurde mit Zement aufgegossen, in den dann eilig Name und Todesdatum geschrieben wurden.

Gehweg und Gedenken

Gedenksteine bringen vielleicht nicht jeden dazu, zu stolpern und stehenzubleiben.  Aber sie sind lebendiges Mahnmal dafür, dass sich Menschen mit der Vergangenheit und Gegenwart kritisch auseinandersetzen. Sie zeigen uns, dass es immer noch nötig ist, sich zu erinnern und dass es immer noch Menschen gibt, die bereit sind, das auch zu tun.

Luise

So gut kannte ich Luise nicht. Hatte nur sporadisch mit ihr zu tun.

Luise

Dennoch war sie für mich ein ganz warmer, ruhender Pol im Frauentreff Olga in der Kurfürstenstraße. Nachdem wir uns kennen lernten, blieben wir lange beim „Frau Frank“ und „Frau Wosnitza“. Ich duze Menschen schnell. Doch hier wurde mir ein langsames Annähern angeboten, das dennoch viel Offenheit ausstrahlte.

Im Frauentreff erinnere ich Luise, wie sie neben oder hinter dem Tresen stand. Sie war immer ansprechbar, gab Antworten, Hilfe, Essen, Kondome – je nachdem, was gerade gebraucht wurde. Mit ruhiger, zugewandter Stimme. Dennoch klar und bestimmt, in dem was sie ausdrücken wollte. Oder eben fragend, wenn sie selbst noch nicht ganz klar über etwas war.

Luise - Zeichnung von Anita Staud

Candy - Zeichnung von Anita Staud

Immer mit dabei: Candy. Ihre strubbelige, vierbeinige Begleiterin. Hier und auf der Straße. Zum Beispiel beim Straßenfest, beim internationalen Hurentag. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen war Luise daran gelegen, präsent zu sein und auch mit den AnwohnerInnen über die Situation auf dem Straßenstrich ins Gespräch zu kommen.

Kreative Hilfe gab Luise meines Wissens in zweierlei Hinsicht. Zum einen arbeitete sie mit der Künstlerin Anita Staud am Projekt Dreamvision. Aus den ersten Anfängen, in denen Anita Staud die Frauen in einem Skizzenbuch portraitierte, hat sich inzwischen ein Kunstprojekt entwickelt, das an anderer Stelle vorzustellen ist. Doch Luise ermunterte die Frauen schon früh auch in der Öffentlichkeit zu malen. Sie ging mit zum Kiezmosaik und schuf selbst Kleinode.

Luises Zeichnung am Kiezmosaik

Luises Zeichnung am Kiezmosaik

Luises Zeichnung am Kiezmosaik

Als ich diese sah, bezog ich die Düsterheit auf ihre Arbeit und die Situation der Frauen, die sie betreute. Denn Luise war für mich heiter, gelassen, wie der ruhige Pol in der Brandung, verlässlich und unbedingt vertrauenswürdig.

Aktiv beteiligt war Luise auch, als es im Vorfeld der richterlichen Vor-Ort-Begehung im Sexkaufhaus LSD darum ging, ein Zeichen zu setzen, dass dieses hier nicht erwünscht sei. Sie hatte die Anliegen der Prostituierten im Blick. Diese an dem Tag, wo ein Mediengewitter zu erwarten war, auf die Straße zu schicken, fand sie keine gute Idee. Dann schrieb sie: mir fällt gerade ein, dass wir hier seit Wochen Unterschriften contra Laufhaus von den Frauen gesammelt hatten. Es sind zwar nur 35 Unterschriften – aber immerhin. Könnten diese von Interesse für den 19. Mai sein? Diese Information gaben wir vom Quartiersrat Magdeburger Platz dann an die Richterin und die Presse weiter. Und ja, es war von Interesse.

Unerwartet bescherte ich Luise eine große Freude. Im Rahmen der Charme Offensive Potsdamer Straße wurden für die Broschüre Statements gesucht. Meine Anfrage, ob nicht auch einige Frauen etwas schreiben könnten, nahm sie gerne auf. Und dann kam diese Mail zurück: habe Deine Mail gelesen und bin ganz platt, dass Du Joy Markert kennst?! Das ist ja wohl mein absoluter STAR-HÖRSPIEL-Auto! Für den versuche ich gern „charmante Statements“ zu erhaschen.

Und noch eine weitere Begegnung bleibt mir in lebendiger Erinnerung. Im Quartiersmanagement Schöneberger Norden stellte Luise ein Brettspiel vor, mit dem im Frauentreff Olga die Besucherinnen auf die Gegebenheiten im Kiez aufmerksam gemacht werden sollten. Wo sind die Kindergärten, wo die Kirche, wo die Moschee – bitte nicht direkt davor stellen. Dazu gab es ein Frage und Antwortspiel in mehreren osteuropäischen Sprachen, das die Frauen über ihre rechtlichen und gesundheitlichen Rechte und Pflichte in Deutschland und im Zusammenhang mit ihrer Arbeit aufklärte. Bei der Vorstellung war Luise noch ganz aufgeregt, denn sie hatte das ursprüngliche Brett verloren. Das war ihr ganz arg. Sie hatte ein neues gemacht. Glücklicherweise waren die Spielfiguren nicht verschwunden. Eine Goldschmiedin, Freundin von Luise, hatte Frauen kreiert, circa drei Zentimeter groß. Alle individuell und als Prostituierte zu erkennen.

So wie ich sie kennen lernte, waren es diese kleinen Details, die Luise wichtig waren. Bei der Kreation eines Brettspiels ebenso wie im wirklichen Leben bei der detaillierten Aufmerksamkeit, die sie Menschen entgegen brachte.

Luises GrabVor drei Monaten nahm sich Luise das Leben.

Ihr Grab auf dem Friedhof der Luisenstadt Gemeinde ist mit Torf bedeckt und eingefasst mit weißen Steinen. Eine liebevolle letzte Ruhestätte.

Hinter dem Grab steht ein Baum. Der eine Ast ist knorrig, das Holz mit Borke umfasst. Der andere ragt gerade in den Himmel, das Holz ist kahl und ungeschützt.

Heute ist der 100. Internationale Frauentag. Ich möchte an die wunderbare Luise erinnern.

Wie gesagt, so gut kannte ich Luise nicht. Jetzt bin ich glücklich über jede Begegnung, die ich mit ihr haben durfte.

Friedhof der Luisengemeinde