Schlagwort-Archiv: Geschichte

Fortschreibung – Kiezmosaikische Integration

Fortschreibung 1
14. Juli 2014 – Wir sind Weltmeister!

Gestern beim Mitfiebern und Mitfreuen während des Finales der WM 2014 und der anschließenden Preisverleihung, fiel mir diese Geschichte des Kiezmosaiks wieder ein.

1. Veröffentlichung: 11. September 2010:

Seit Frühling 2009 gehen die Künstlerin Anita Staud und die Rechercheurin und Kulturmanagerin Regine Wosnitza immer wieder mit Gruppen zum Kiezmosaik am Seniorenstift der Elisabeth-Klinik in der Lützowstraße. Inzwischen haben dort SchülerInnen der Fritzlar-Homberg/Grips Grundschule, SeniorInnen, Geschäftsführer und Personal der Elisabeth Klinik, PassantInnen, Frauentreff Olga, AnwohnerInnen, der Kontaktbereichsbeamte, MalschülerInnen einen Stein bemalt und zur Erstellung dieses Gesamtkunstwerkes beigetragen.

Irgendwann entstand der Deutschlandflaggenstein Weiterlesen

Barbara Krauß: Engagement für den Kiez

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Weltreise auf der Potsdamer Straße

Von HU-Gastbloggerin Janna

Zehn Jahre ist es her, dass Barbara Krauß zum ersten Mal mit dem Fahrrad durch die Potsdamer Straße fuhr und ihr Herz für diesen „lauten und dreckigen“ Fleck Erde entdeckte: Den Rewe-Markt, der ein Huhn aus Brandenburg zum wohl besten Preis-Leistungs-Verhältnis anbietet, das Restaurant Ebe Ano, wo man laut Krauß authentisches nigerianisches Essen bekommt, das Orienthaus, wo man außergewöhnliche Brautmode kaufen kann und so weiter – „Auf der Potsdamer Straße kann man eine Weltreise machen“, sagt Krauß, die heute gemeinsam mit ihrem Mann im Schöneberger Kiez lebt und arbeitet. „Und die Potsdamer Straße ist das Herz Schönebergs: Ein Herz, das unter leichten Rhythmusstörungen leidet“. Weiterlesen

Was wir sehen, was wir benennen, was wir erkennen

Der Artikel ist entstanden im Rahmen des Winterkurses “Online Journalismus – Recherchieren und Bloggen” des Career Center der Humboldt Universität

Von HU-Gastbloggerin Natascha

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„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“
– Aristoteles (384-322 v. Chr.)

Der Mensch erschafft seine Wirklichkeit. Er schafft Räume, Stadträume und Straßen, die er mit Leben und Funktion erfüllt. Dieses unterhält er fortwährend, neu erschaffend und die Natur drumherum spricht hierbei kontinuierlich mit. Wie nach jedem Schöpfungsakt steht man davor, betrachtet es und will es beschreiben und verstehen. Hierbei wird man überflutet von einem Meer aus Zeichen, Begriffen, Sinngehalten, Objekten – und der Geist versucht alles zu einem klaren Gedanken zusammenzuschmelzen, fast schon zu einer geistigen Sinnlichkeit.

Der Mensch: Schöpfer und Interpret

Dieser Augenblick hat zur Bedingung, dass Zeichen, die Begrifflichkeiten und Objekte in einem klaren Zusammenhang zueinander stehen. Schon die Hochkultur der Griechen, vertreten durch Aristoteles und Platon, haben diese Entschlüsselung erkannt und in Form des sogenannten semiotischen Dreiecks verbildlicht. Seither steht die Semiotik für die Lehre von der Bedeutung der Zeichen als Grundlage des Denkens und der Kommunikation.

Im Konkreten: Das Hier und Jetzt

Nehmen wir Berlin mit seinen Großstadtstraßen und sehen wir im besonderen auf die Potsdamer Straße, erfassen wir die Materialität der Straße und fragen danach, wie die Dinge, die wir sehen, zu den Bildern führen, die von ihr in uns entstehen.

Diese Fragen stellte sich auch Eva Reblin in ihrer Dissertation „Die Straße, die Dinge und die Zeichen – Zur Semiotik des materiellen Stadtraums“. Sie untersuchte die Potsdamer Straße auf eine nie zuvor beschriebene Art: Wann und wie materielle Dinge einer solchen Großstadtstraße zu einer eigenen Bedeutung und zu einer bestimmten spezifischen Straßeninterpretation führen. Aus einer Anzahl von Leitfadeninterviews gelingt es ihr, vielschichtige Bedeutungslinien zu den hinterfragten Stadterscheinungen offenzulegen. Gemessen an der fast unbegrenzten Zahl der möglichen Interpreten, dem unendlichen Universum der Semiose, kann diese Analytik, wie auch Eva Reblin darlegt, jedoch nur unter einschränkenden Modellierungen und Hypothetik zu entsprechenden Ergebnissen führen.

Also, dann lassen wir doch die Dinge verspielt im Geiste treiben, ohne sie allzu sehr auf die Probe zu stellen.

Zum Buch:
 Eva Reblin
„Die Straße, die Dinge und die Zeichen – Zur Semiotik des materiellen Stadtraums“
Transcript Verlag, 1. Aufl., 464 Seiten
ISBN 978-3-8376-1979-9

Porträt Elsa

Bild für Elsas Portrait

Das Porträt ist entstanden im Rahmen des Winterkurses „Online-Journalismus – Recherchieren und Bloggen“ des Career Center der Humboldt Universität.
Porträtiert von Carsten.

Die 27-jährige Studentin der Kulturwissenschaften und der Kunstgeschichte trägt den außergewöhnlichen Namen Elsa / Nicht so außergewöhnlich für ihre Herkunft / Ihr sympathischer französischer Akzent fällt sofort auf – ebenso ihr großer, schwarzer Hut und die farbenfrohen Ohrringe / Diverse Besuche der deutschen Hauptstadt während ihrer Kindheit haben ihr Interesse geweckt / Es fing an bei einer deutschen Gastfamilie / Berlin hat so viel zu entdecken / Es ist ganz anders als Paris / Und viele weitere Ausflüge in die Stadt ihrer Liebe folgten / Mittlerweile wohnt Elsa in Berlin / Sie lebt zentral und genießt die künstlerischen Eindrücke von allen Seiten, während sie fleißig an ihrer Bachelorarbeit werkelt / Es geht um junge Künstler / Sie arbeiten mit Archiven, entdecken diese neu und transformieren sie in völlig neue Sphären / All das analysiert Elsa bis ins kleinste Detail und bringt es zu Papier / Schwerpunkt sind dabei Doppelidentitäten und damit verbundene verkörperte Minderheiten der jungen Künstler / Elsa hat auch schon in Rennes studiert / Erfahrungen im Bereich Online-Journalismus hat sie bereits einige gesammelt / Darunter ein Praktikum in einer Redaktion und sogar schon freiberuflich bei: Contemporary And – einem dynamischen Ort, an dem Themen, Diskurse und Informationen zum zeitgenössischen Kunstschaffen aus diversen afrikanischen Perspektiven reflektiert und vernetzt werden / Elsa besitzt einen Tumblr-Account, der hauptsächlich dazu dient, über Neuigkeiten von Künstlern, Orten und Events auf dem Laufenden zu bleiben / Alle Informationen landen so an einem Ort und sind für sie leicht zugänglich / Sie liest gern und ist ein absoluter Kunst-Fan / Projektleiterin könnte sie sich vorstellen / Natürlich in den Bereichen Kultur oder zeitgenössische Kunst / Auch Kunstkritiken schreibt sie gern / Der gesamten Bereich Journalismus gefällt der großen Frau im Allgemeinen sehr gut

Verein Berliner Künstler – Beständigkeit und Wandel am Kunst-Hotspot Potsdamer Straße

Artikel von Gastbloggerin Anne geschrieben im Rahmen des Sommerkurses 2012 “Online-Journalismus – Recherchieren und Bloggen” am Career Center der Humboldt Universität

Lange Zeit hielt sich der Verein Berliner Künstler der Tradition verpflichtet und verweigerte sich neuen Wegen der Kunst. Dies war sicherlich auch den Wirren der Nazi-Zeit geschuldet. Heute zeigt sich der Verein nicht zuletzt durch einen neuen Vorstand deutlich offener gegenüber internationalen Künstlern und Bewegungen, wie die Ausstellung ISTANBUL_related beweist. Weiterlesen

Die Musikerin und der Hausbesetzer – Gehweggedenken und Stolpersteine im Süden der Potsdamer Straße

Artikel von Gastblogger Bernhard, geschrieben im Rahmen des Sommerkurses 2012 “Online-Journalismus – Recherchieren und Bloggen” am Career Center der Humboldt Universität.

Der Gehweg erzählt Geschichten. In der Gegend um den Südteil der Potsdamer Straße die von Maria Leo und Klaus Jürgen Rattay.
Sie war eine Musikerin aus Leidenschaft, er ein Berliner Hausbesetzer. Es trennt beide ein halbes Jahrhundert, doch verbindet sie ein Idealismus, der sie dazu brachte, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen – und der Ort ihres Gedenkens.

Seit Juni 2006 erinnert ein von der Leo Kestenberg Musikschule in Auftrag gegebener Stolperstein in der Pallasstraße 12 an Maria Leo. Hier hatte sie gelebt und gearbeitet.
Bereits in seinem Todesjahr wird ein an Klaus Jürgen Rattay erinnernder Gedenkstein von Unbekannten angebracht, und unerwartet von offizieller Seite nicht wieder entfernt.

Manchmal bleibt jemand stehen um die Namen zu lesen, meist jedoch nicht. Das bedeutet aber nicht, dass Gedenksteine sinnlos wären.
„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“ lautet das Motto des Stolpersteinprojekts. Die Hauptauseinandersetzung mit der Geschichte und den Menschen, denen gedacht werden muss, findet nicht durch zufällig vorbeilaufende Menschen statt, sondern in der Vorbereitung und dem Akt des Verlegens an sich. Die Gedenksteine stehen symbolisch für die Erkenntnis, dass Erinnerung und Gedenken nichts ist, was von oben verschrieben werden kann, sondern etwas ist, das in persönlicher Auseinandersetzung und Engagement erarbeitet werden muss.

Maria Leo – Ein Stolperstein für eine Musikpädagogin

Frage ich Menschen, die an den Gedenktafeln vorbeigehen, ob sie diese bemerkt hätten oder sogar etwas über die Personen, denen gedacht wird, wüssten, so lautet die Antwort meist nein. Viele bemerken sie nicht einmal, wenn sie darüber stolpern.
Das ist schade, denn hinter jedem Stein steht eine eigene Geschichte.

Die 1873 geborene Maria Leo war in ihrem Leben vieles. Studentin, Frauenrechtlerin, Seminarleiterin und Lehrerin.Vor allem aber war sie Pianistin und Musikpädagogin.Stolperstein Pallasstr 12 (Schön) Maria Leo
Als Leiterin eines Musikseminars sorgte sie dafür, dass auch Frauen Zugang zu qualifizierter Ausbildung erhielten, die ihnen das Institut für Kirchenmusik in Berlin versagte.
Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten verlor sie durch antisemitische Gesetzgebungen alle Anstellungen und Ämter, am Ende sogar ihren Pass, was ihr eine Ausreise unmöglich machte.
Um einer Deportation nach Theresienstadt zu entgehen setzte sie 1942 ihrem Leben ein Ende.

Stolpersteine wie der, der an Maria Leo erinnert wurden ursprünglich vom Begründer des Konzeptes, Gunter Demnig, auf eigene Faust verlegt. Heute ist das Gedenkkonzept offiziell anerkannt und hat Ausmaße angenommen, die eine einzelne Person längst nicht mehr bewältigen kann.
Deshalb unterstützt uns hier in Tempelhof-Schöneberg seit zwei Jahren das Oberstufenzentrum Bautechnik aus Spandau mit seinen Schülern und projektbegleitenden Lehrern bei der Verlegung der Steine “ erklärt Hannelore Emmerich von der AG Stolpersteine des Schöneberger Kulturarbeitskreis e.V.
Stolpersteine sind nicht nur eine Inschrift, sondern auch Symbol: Da sie aus Messing gemacht sind laufen sie mit der Zeit an. Sie müssen regelmäßig wieder aufgearbeitet werden und stehen sinnbildlich für eine Vergangenheit, die nicht vergessen werden darf sondern immer wieder aktiv erinnert werden muss.
Trotz parteipolitischer und rechtlicher Anerkennung des Projekts werden Entscheidungen, für wen und wo Stolpersteine verlegt werden nicht von oben getroffen. Es sind im Gegenteil Einzelpersonen, Hausgemeinschaften, Vereine, Schulklassen und in Schöneberg zu 40 Prozent Angehörige, die einen Stolperstein beantragen.
Hinter einem Stolperstein steht also das Interesse und vor allem das persönliche Engagement von Menschen, die sich intensiv mit der Vergangenheit auseinandersetzen wollen. Denn zum Beantragen eines Stolpersteins reicht es nicht aus, diesen lediglich zu bezahlen. Es ist eine intensive Recherche zu den Personen notwendig, denen gedacht werden soll.

Klaus Jürgen Rattay – Erinnerung an einen Hausbesetzer

Klaus Jürgen Rattay starb am 22. September 1981 mit gerade mal 18 Jahren.
Begeistert von der Energie, Solidarität und gemeinsamen Arbeit, die einer als ungerecht und nicht sozial empfundenen Wohnungsmarktpolitik entgegengesetzt wurde schloss er sich der Berliner Hausbesetzer_innenbewegung an. Bei einer Demonstration gegen Räumungen und den damaligen Innensenator Lummer werden die Protestierenden von der Polizei auf die nicht gesperrten Potsdamer Straße gedrängt.
An der Kreuzung Potsdamer Straße/Bülowstraße wird Klaus Jürgen Rattay von einem Bus frontal angefahren und stirbt.
Ermittlungen finden nicht wirklich statt und bis heute wurde niemand für den Tod zur Verantwortung gezogen.
Gedenktafel Potsdamer Str 127 (Schön) Klaus Jürgen RattayDer Gedenkstein für Klaus Jürgen Rattay wurde spontan als direkte Reaktion auf den Tod des Hausbesetzers verlegt und ist gleichzeitig politischer Protest. Auch wenn nicht genau klar ist, wer den Stein angebracht hat, lassen sich ein paar allgemeine Aussagen darüber treffen.
Im Gegensatz zu Stolpersteinen, denen eine intensive Recherche und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vorausgeht entsprang Rattays Gedenkstein einer gelebten Gegenwart.
Dies ist auch in der Form des Steines sicht- und spürbar. In Form eines Kreuzes wurden Steine aus dem Gehweg entfernt. Das Loch wurde mit Zement aufgegossen, in den dann eilig Name und Todesdatum geschrieben wurden.

Gehweg und Gedenken

Gedenksteine bringen vielleicht nicht jeden dazu, zu stolpern und stehenzubleiben.  Aber sie sind lebendiges Mahnmal dafür, dass sich Menschen mit der Vergangenheit und Gegenwart kritisch auseinandersetzen. Sie zeigen uns, dass es immer noch nötig ist, sich zu erinnern und dass es immer noch Menschen gibt, die bereit sind, das auch zu tun.

Der Tod ist bunt – und blüht

Von HU-Gastbloggerin Nadine Arndt

Wir kennen uns schon lange
Der Phönix und ich
Ich lehrte ihn zwei Worte
Damit er mit mir spricht:
Ende Neu
(Einstürzende Neubauten – Ende Neu)

Düster wirkende alte Eiben und Efeu, verwitterte Grabmale mit schon lange nicht mehr lesbaren Inschriften, gebeugte Frauen in Schwarz die mühsam das welke Laub auf einem Grab entfernen. Stille und Trauer.
So stellt man sich einen typischen Friedhof vor. Doch der Alte Sankt Matthäus-Kirchhof in der Großgörschenstraße entspricht diesem Bild nicht.
Im Norden Schönebergs, am äußersten Rand der berühmten „Roten Insel“ liegt er – ein traditionsreicher Friedhof mit wechselvoller Geschichte.

1856 geweiht war er Begräbnisstätte wohlhabender Kaufleute, Künstler und Wissenschaftler.

Noch heute zeugen viele opulent gestalteten Gräber, Gruften und Mausoleen aus der Gründerzeit vom Reichtum der hier Begrabenen und bieten einen ungewöhnlichen Kontrast zu den vielen, mit Pflanzen, Keramikkatzen, Windspielen, Regenbogenflaggen und roten AIDS-Schleifen liebevoll geschmückten Gräbern aus neuerer Zeit.
Doch beinahe wären die Wirren der Zeit auch dem Kirchhof zum Verhängnis geworden: die Umbettungen auf den Südwestkirchhof in Stahnsdorf,  die zunächst Platz schaffen sollten für Albert Speers monumentale Nord-Süd-Achse, wurden abgelöst von Krieg und Zerstörung und Vergessen & Verfall bis in die 1970er Jahre tat ein Übriges.

Die Liste der hier begrabenen mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten ist lang: Neben den Gebrüdern Grimm, Kaufmann Bolle und dem Mediziner Rudolf Virchow liegen hier auch die Frauenrechtlerinnen Hedwig Dohm und Minna Cauer und die Schriftstellerin May Ayim; den Verschwörern vom 20. Juli 1944 um Graf von Stauffenberg ist ein Gedenkstein gewidmet – nach ihrer Hinrichtung wurden sie hier begraben, aber später von den Nazis ausgegraben und verbrannt, ihre Asche wurde in den Riesenfeldern verstreut.

Auch Ton Steine Scherben-Sänger Rio Reiser hat hier inzwischen seine letzte Ruhestätte gefunden. Vor einem Jahr wurde er von Fresenhagen auf den Matthäus-Kirchhof umgebettet.


Der „König von Deutschland“ ist allerdings nicht der einzige schwule Aktivist der hier begraben ist. Neben der berühmten Berliner Tunte „Ovo Maltine“ findet sich hier auch das Grab des im Jahr 2000 verstorbenen Napoleon Seyfarth, der mit seinem autobiographisch inszenierten Roman „Schweine müssen nackt sein“ als erster deutschsprachiger Autor offensiv mit seiner AIDS-Erkrankung umging.



Da paßt es dann auch ins gar nicht düstere Bild, daß das auf dem Friedhofsgelände gelegene „Café Finovo“ von Bernd Boßmann – in der Berliner Tuntenszene besser bekannt als „Ichgola Androgyn“ – betrieben wird.


Das in einem alten Latrinenhaus gelegene Café ist wohl DAS Aushängeschild einer der ungewöhnlichsten Friedhöfe der Stadt. Das Café nebst Blumenladen „Roter Mohn“ bietet neben Blumen, Kränzen und Trauergestecken auch täglich frisch gebackenen Kuchen und kleine Leckereien, einen Raum für Trauerfeiern, die Selbsthilfegruppe für die Eltern von „Sternenkindern“ sowie für die mobile Sozialberatung durch den „Hartzer Roller“.

Doch wie kommt man dazu, ein Café auf einem Friedhof zu eröffnen?
Bernd Boßmann ist schon um das Jahr 2000 das leer stehende Haus aufgefallen. Der Tod des engen Freundes Ovo Maltine im Jahr 2005 führte dann zu regelmäßigen Besuchen auf dem Friedhof und zur Idee, einen Ort für die existenziellen Bedürfnisse von Menschen schaffen: Weinen, Lachen, Essen und Trinken, Ausruhen und vor allem: Kommunikation.
Boßmann merkt kritisch an: „Friedhöfe sind nicht für die Lebenden gemacht, der Gang auf den Friedhof ist für die meisten Menschen reine Pflicht.“
Auf den Matthäus-Kirchhof hingegen soll man gerne kommen.

Der Name „Finovo“ ist abgeleitet von den lateinischen Wörtern für „Ende“ und „neu“ – das einzelne „n“ in der Mitte des Wortes soll daran erinnern, daß aus dem, was endet (finis), immer auch schon das Neue beginnt (novus). In diesem Sinne steht es auch für die ewige Wiederkehr.
Der ehemalige Krankenpfleger mag es nicht, daß der Tod so häufig einseitig negativ dargestellt und das Leben überbewertet wird. Leben und Tod gehören zusammen und was „besser“ ist, sollte aus der Perspektive des Einzelnen betrachtet werden. Für einen Sterbenden, für einen Kranken mit unerträglichen Schmerzen, für einen Hoffnungslosen kann der Tod das Ziel der Sehnsucht werden und die Erlösung versprechen während das Leben nur noch eine Bürde ist. So sind auch Geboren-Werden und Sterben für ihn einfach nur Phasen des Übergangs die nicht pauschal positiv oder negativ gewertet werden sollten.

Der Cafébesitzer ist auch im Vorstand es Vereins „Efeu e.V.“ der sich nicht nur der Erhaltung des Friedhofs widmet, sondern auch mit Infomappen zu Themen wie „Frauen“ oder „Kreuz und Queer“, Vorträgen & Führungen die Lebendigkeit des Kirchhofs unterstreicht. Das Projekt „Kinder und Kirchhof“, das Kindern den Friedhof mit all seinen existenziellen Themen näher bringen soll, wird nicht ganz so häufig in Anspruch genommen, dafür ziehen die verschiedenen Themenführungen immer wieder Interessierte an.
Der „Garten der Sternenkinder“ ist ein Platz für die „Sternenkinder“, die während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt verstarben. Hier finden sie ihre liebevoll von Eltern & Geschwistern gestaltete letzte Ruhestätte.


Die Elterngruppe, die sich in den Räumen des Cafés trifft, ist eine Selbsthilfegruppe – abseits von professionellen Therapien wird hier auf das Prinzip „von Mensch zu Mensch“ gesetzt.
Im Eingangsbereich des „Finovo“ finden sich dann neben den Themenmappen auch Bücher zu Trauerarbeit, Begräbnisritualen und Werke der Gebrüder Grimm, von Rio Reiser, Hedwig Dohm oder May Ayim.
Individualität und Selbstentfaltung werden hier groß geschrieben – niemandem soll ein „richtiger“ Umgang mit dem Tod, mit dem Begräbnis, mit dem Glauben, eine „richtige“ Art zu leben und zu fühlen aufgezwungen werden, und so ist auf diesem besonderen Fleckchen Erde jeder ein gern gesehener Gast – die regelmäßigen Besucher mit Harke und Gießkanne ebenso wie die neugierigen amerikanischen Touristen, der ältere, türkische Anwohner, der hier seinen schwarzen Tee trinkt, ebenso wie die junge Mutter, die hier nur schnell ein paar Blumen für eine Feier kaufen will.
Für den Idealisten Boßmann ist das „Gemeindearbeit“. Gemeinde definiert er als Gemeinschaft – das Zusammengehörigkeitsgefühl und die gewachsenen Strukturen im Kiez, die Offenheit für neue Menschen, die Rechte und Pflichten, die sich aus dem Zusammenleben verschiedener Menschen ergeben. Füreinander da sein: für ihn ist das die Basis der Religionen, sich in aller Unterschiedlichkeit respektvoll begegnen können, die Idee des Cafés. Von Besuchern aufgrund seines Schwul-Seins diskriminiert wurde er noch nicht, merkt er an. Und sagt weiter: „Es ist das absolut Unsinnigste, sich selbst zu verleugnen.“ Er ist überzeugt davon, daß, wer sich & sein Sein versteckt, so erst recht Ablehnung, Feindschaft & Diskriminierung herausfordert.

Einfach ist das Leben als Engagierter trotzdem nicht – das ewige Ringen mit den Behörden um die verschiedenen Genehmigungen, fehlende Subventionen, immer wieder die Angst um die Existenz der vielen Projekte.
„Mit Hartz IV hätte ich mehr Geld“, so der trockene Kommentar zum nicht enden wollenden Kampf als Selbstständiger und Ehrenamtlicher.
Einen Kampf hat er allerdings schon gewonnen: Seine „Berlinade“, eine in zwei Geschmacksrichtungen erhältliche Limonade, deren Verkaufserlös in alternative Projekte fließen soll, darf auch weiterhin so heißen. Die Klägerin Bionade scheiterte vor Gericht mit ihrem Vorwurf der Produktpiraterie.

Einen leckeren Birnen-Käsekuchen und viele Eindrücke später, in der Beobachtung des bunten, herzlichen Treibens auf dem Friedhofsgelände wird mir dann eines klar: Friedhöfe sind lebendige Wesen mit einem ganz eigenen Charakter.

Poetische Potse – Teil 4 und Ende – literarischer Streifzug durch drei Jahrhunderte

Von Gastblogger Alexander Skrzipczyk
er studiert Germanistik und Philosophie an der TU
Fortsetzung vom 1. Oktober 2011

In allen Farben schillern wir die belebte Potsdamer Straße in südliche Gefilde hinunter, zwar nicht bis Sanary-sur-Mer in Südfrankreich, aber doch bis zur Ecke Kurfürstenstraße. Nicht nur Joseph Roth, sondern auch unser zeitversetzter Audio-Guide Walter Benjamin emigriert zu düster weltkriegerischer Zeit nach Frankreich, nachdem er seine Kindheit in Berlin-Tiergarten verbringt. Am Magdeburger Platz wird er in die Welt geworfen und zieht nach einem Jahr – bis etwa zu seinem siebten Lebensjahr – in die Kurfürstenstraße 154. Angekommen am Hort seiner kostbaren Kindheit benötigen wir ja die Kopfhörer nicht mehr, setzen sie ab, und fast ist es so, als hörten wir weiter eine Stimme zu uns über erste erotische Erfahrungen oder das unvergleichliche Flair der umliegenden Treppenhäuser sprechen. Schweift der Blick nach rechterhand sieht man sie wieder stehen; hochbehackte Frauen osteuropäischer Herkunft. Auch der mittlerweile in die Adoleszenz gekommene Benjamin kann, libidinös erweckt, der geschlechtlichen Versuchung nicht widerstehen: „Stunden konnte es dauern, bis es dahin kam, auf offener Straße eine Hure anzusprechen. Das Grauen, das ich dabei fühlte, war das gleiche, mit dem mich ein Automat erfüllt hätte, den in Betrieb zu setzen, es an einer Frage genug gewesen wäre. Und so warf ich denn meine Stimme durch den Schlitz. Dann sauste das Blut in meinen Ohren und ich war nicht fähig, die Worte, die da vor mir aus dem stark geschminkten Munde fielen, aufzulesen. Ich lief davon, um in der gleichen Nacht – wie häufig noch –
den tollkühnen Versuch zu wiederholen. Wenn ich dann, manchesmal schon gegen Morgen, in einer Toreinfahrt innehielt, hatte ich mich in die asphaltenen Bänder der Straße hoffnungslos verstrickt, und die saubersten Hände waren es nicht, die mich freimachten.“

Noch kurz heften wir den Hausgeistigen ans Klingelbrett – wäre es nicht reizvoll in einer Welt ohne Argwohn das Anheften eines Familienbildes an den Klingelschildern zur Regel werden zu lassen? Wie unendlich spannungsvoll, persönlich, und über-raschungsfreudig wäre dies wohl? Natürlich ist die Welt, wie sie ist, aber solange man noch träumen darf, ist auch nichts verloren.
Die Spannung von Faktizität und Utopie ist auch der inhaltliche Dreh- und Angelpunkt der Poesie Nelly Sachs’: Nun endet also unser Labyrinthengang mit einer Nobelpreisträgerin, der sich eigens ein nach ihr benannter Park gewidmet hat, den man fußläufig von Walter Benjamin straßenabwärts rechts liegen findet. Abendsonne, Wasserreflexionen, Vogelgeschrei vom Zoo herüber, Lärm aus den unter der U1-Trasse befindlichen „Akademischen Bierhallen“, wo vor hundert Jahren der Berliner Bär steppte, und die sich nunmehr in ein tristes Wohnhaus verformt haben. Und dieses Etablissement am Ende der Straße des Benjamin, dem die Universität die Habilitation nicht anerkennen wollte, denken wir. Dies ist wohl der Preis dafür, dass sie ihn einhundert Jahre später mit Vorliebe zitiert.
Nelly Sachs – eine Dame mit schwarzer Haube und schönen Augen – können wir im Parke allerdings nirgendwo erspähen. Lediglich einen Stein mit ihrer Namensgravur sitzt gemütlich auf der Wiese. Ein Mann hastet an uns vorüber zur nahegelegenen Bahnstation hin, erblickt unsere suchenden Köpfe und ruft uns, rückwärts vorwärts laufend, zu: „Wenn sie Nelly Sachs suchen – die ist in Schweden. Ich fahre sie heute besuchen…“ Schöne Grüße! – irgendwie kommt uns der Mann bekannt vor; seine hohe, eindringliche Stimme und sein stechschwarzes Augenpaar erinnern an Paul Celan.
Mit buchstäblich einem der letzten Flüge entgeht Nelly dem sicheren Fall ins Grab, als sie mit ihrer Mutter 1940 nach Stockholm flieht, und dem bereits ausgestellten Deportations-Befehl nicht Folge leistet. Nationalschriftstellerin Selma Lagerlöf hatte es der fünfzehnjährigen Nelly angetan, ein jahrelanger Briefwechsel und eine zentrale geographische Veränderung der Lebenslinie nehmen ihren Lauf. Ihren unbekannten Geliebten muss sie in Deutschland zurücklassen und ihn dem Sterben im Konzentrationslager überantworten. Es ist bezeichnend für den Charakter Nelly Sachs, dass die akribisch detektive Forschung es nicht vermocht hat, den Namen ihres „toten Bräutigams“, aus dessen Tod ihre „ganze Dichtung erwachsen ist“, zu ermitteln, denn das mystische Nicht-Sagen, Aussparen und Verschweigen gehört ganz fest zu ihrem Wer, welches hier an die Negative Theologie gemahnt. „Aus dem Schweigen“ erstehe die Kraft, die der Schöpfung und sämtlichen Lebenslinien ihren Lauf gibt. „Im Park Spazierengehen – /die Eingeweihten/ nur vom Stimmband des Blitzes aufgeklärt/ an den Kreuzwegen das unbeschriebene Pergament/ der Schöpfung einatmend/ wo Gott wie ein fremder Saft im Blute/ seine Herrlichkeit anzeigt.“

Auch diesen Gott durften wir heute schließlich noch kennenlernen, umrankt von letzten Abendstrahlen, die perlweinerne Flasche grundlos immer von neuem mit rauschhafter Poesie leerend. Flankiert von allen Köpfen, Lasker-Schüler, Wedekind, Arno und Joseph Roth, die heute über unseren Weg rollten, setzen wir uns freigeistig in Richtung Nelly Sachs’ Geburtshaus in der Maaßenstraße in Bewegung, und fast ist es so, als hörte man sie allesamt Wörter biegen, als hörte man zwanzig Radiosendungen gleichzeitig. Mal spielt sich die eine Stimme in den Vordergrund, bald eine andere, teils singen sie Duett. Am Nollendorfplatz sehen wir wieder die Kinder mit den Schulmappen rennen „Hier ist aus einem Kellerlokal einmal ein Betrunkener  auf die Kinder zugetorkelt und hat sie gestreichelt und dann plötzlich geschlagen, ein weinig weiter, auf dem Platz schon, ist gerade neben ihnen eine Frau zusammengebrochen, eigentlich in sich zusammengesunken, kreideweiß, knochenlos und die rasch herbeigeeilten Erwachsenen haben die Köpfe geschüttelt, haben Hunger, nichts als Hunger gemurmelt und nach der Polizei gerufen.“
Wir können die Kinder nicht mehr weit verfolgen, denn „hier biegen sie schon in die Kleiststraße und rennen wieder, aber mit aufmerksam nach links gewendeten Köpfen, um den Augenblick nicht zu verpassen, in dem die rote U-Bahn aus der Tiefe auftaucht oder sich vom hohen Damm in die Tiefe hinabstürtzt, der Station Wittenbergplatz zu.“ Die in sich zusammensinkende Frau und die zahllosen sich vor dem Bahnhofsgebäude verlebenden Obdachlosen haben den eben noch in seiner vollen luziden Größe vor unserem inneren Auge oszillierenden mystischen Gott binnen Sekunden aus unserem Bewusstsein gedrängt, und eine andere Stimmkurve schallt mehr und mehr angesichts des grauen omnipräsenten Unglücks durch unsere angefüllten Köpfe – die Georg Heyms, die den Tauben Gehör und den Stummen Rede schenken möchte. Ganz einhellig stimmen wir zu und ein, in das Stimmengeflecht, das sich wie von fern gesteuert auf unsere Stimmbänder überträgt, und wir unwillkürlich zu Mitpoeten werden, die Ganzheit unseres momentanen und geistigen Gesichtsfeldes zu Worten gerinnen lassend, klagt auch der andere Gott, oder seine tiefschwarze Seite ihr Recht ein: „dort flattern und schwingen sie/ mit müdem und doch so nervösem/ flügelschlag und warten dass ihnen/ die zwölfteste stunde schlägt –/ die tauben vom nollendorfplatz/ laut dröhnend lachend sitzt er/ hoch oben auf seinem thronigen/ turm umrauscht von schwarzen/ günstlingen krähend verkünden/ sie sein credo – gott der stadt/ taubstumm unterwerfen sich alle/ tauben seinem richtspruch, sie die/ immer untergeben sind stimmlos/ vergebens hausen sie unter eisernen/ unterführungen und ducken/ geworfenheitig unter gottes/ führung ihr haupt/“

Die Wellen der Stimmenflut interferieren, das Knäuel umspannt uns in Lebenslinien und Stimmfetzen wie einen Kokon, auf der obersten Schallwelle wellenritten wir noch bis ganz in den Moment selbststimmig mit, die Stimmenflut zieht wie ein Gewitter weiter ins Nirgendwo, verhallenderweise setzt sie sich wie ein Tee-Satz in unsere sandbänkenen Köpfe ab und wir, – wir kehren unterdes gedankenversunken Heym.
unter Verwendung von „Literarisches Berlin“ Michael Bienert, Verlag Jena1800.
Ende

Wenn sie doch wenigstens Matrosenanzüge tragen würden!

Von HU-Gastblogger Florian

„Doch Froben hat den Schimmel kaum bestiegen, So reißt, entsendet aus der Feldredoute, Ihn schon ein Mordblei, Roß und Reuter, nieder. In Staub sinkt er, ein Opfer seiner Treue, Und keinen Laut vernahm man mehr von ihm.“

Mit diesen Worten beschreibt Heinrich von Kleist den Tod von Emanuel Froben in der Schlacht von Fellbelin, in der Preußen das Joch der schwedischen Besatzung abschütteln konnte.

Froben tauschte in dieser Schlacht sein Pferd gegen den auffälligen Schimmel des Kurfürsten, um so den Gegner zu verwirren. Prompt wird der junge Stallmeister dann auch an Stelle des Kurfürsten erschossen, damit dieser unterdessen die Schlacht gewinnen kann. Diese Heldentat für Kaiser, Volk und Vaterland hatte Froben bereits seinen Platz in preußischen Schulbüchern gesichert.  Es sollte aber noch weitere 200 Jahre und einige weitere Kriege dauern, bis ihm die volle Anerkennung für sein Opfertod zu Teil wurde. Denn im Jahre 1871 wurde die neuerbaute Parallelstraße der Potsdamerstraße ihm zu Ehren benannt. Der legendäre Emanuel Froben, Sinnbild preußischer Pflichterfüllung und Tugendhaftigkeit, ist damit also Namensgeber jener Straße,  die heute von Freiern aus ganz Berlin für ihren Transsexuellen-Strich geschätzt wird.

Als die Straße 1871 im Zuge der Stadterweiterung gegründet wurde, war das aber noch anders. Das erste Haus in der Frobenstraße macht dann auch gleich einen sehr gründerzeitlichen Eindruck, zwei schöne Ausfluchten, hohe Decken und alles vor kurzem renoviert. Bei dem angrenzenden Haus sind die französischen Kriegsreparationen auch gut angelegt worden, allerdings ist es heute in einem recht knalligem Rot gestrichen, wie das in einigen Bezirken Berlins gerne mit Gründerzeitbauten gemacht wird. Die Gegend rundherum ist angenehm ruhig – wenig Verkehr, einige Passanten und eine Traube spielender Kinder –was vor allem dem auffällt, der von der Potsdamerstraße kommt.  Von dem Altersheim gegenüber inspizieren ältere Damen die Passanten misstrauisch, bevor sie  sich wieder ihrer Gartenlaube zuwenden. Das Gebäude gegenüber reißt mich dann aber kurzfristig aus meinen Kaiserzeitphantasien heraus: Ein grauer Nachkriegsklotz, der ein Stockwerke mehr als die Gründerzeitbauten hat obwohl er deutlich niedriger ist.

Beim Überqueren der Bülow Straße (die weiter stadtauswärts übrigens zur Kleiststraße wird) darf man sich dann wieder wie 1871 fühlen. Nicht unbedingt wegen der Baustruktur der Straße, sondern wegen ihrer schieren Größe, das passt irgendwie besser zu der Zeit (vor allem als es die U1 noch nicht gab.) Die Straße ist also feierlich zum Sedanstag geschmückt, Soldaten mit Pickelhauben ziehen vorüber, dahinter die Kappelle, die „Heil dir im Siegerkranz“ und die „Wacht am Rhein“ spielt.

Hat man die Bülowstraße aber überquert, ist das Schwelgen im alten Preußen selbst mit der größten Einbildungskraft nicht mehr möglich. Den Anfang macht ein sozialer Wohnungsbau-Komplex, der sich von der Frobenstraße sicher 70m in die Bülowstraße hineinerstreckt. Gegenüber sind zwar Erker angebracht, aber ganz moderne. Unter diesen befindet sich das „Stehcafe Froben“, in dem es wie in den meisten 24h-Imbissen in U-Bahn-Nähe schmeckt, das scheint wohl genormt zu sein. Die einzige Reminszenz an das alte Preußen sind die in Fraktur geschriebenen Straßenschilder, manche von ihnen sogar an Jugendstil-Ständern befestigt. Während ich an auffällig vielen Kleinwägen, Golfs, Corsas, Fiestas vorbeigehe, stechen mir die üppigen Weinblätter am Ende der Frobenstraße ins Auge. Beim Näherkommen wundere ich mich über die quadratische Ausrichtung der Blätter, bis ich endlich begreife, dass sich unter den Weinblättern ein Gebäude, nämlich das Jugenzentrum „Villa Schöneberg“, versteckt. Während ich davor stehe, strömen Kinder aus der KiTa heraus. Wenn sie doch wenigstens Matrosenanzüge tragen würden!

Die Potsdamer Privatstraße oder eine Terraingesellschaft zieht durch

Wie alle Terraingesellschaften so war auch die Gmbh „Potsdamer Straße“ nicht auf Dauer angelegt. Ihr Zweck war der Bau und Verkauf, nicht der Unterhalt von Häusern. Bereits 1905 befand sich die GmbH in Liquidation. Die Häuser gingen vorübergehend in das Privateigentum der (mutmaßlichen) Gesellschafter über.
Adolf Gradenwitz und seine Frau zogen allein in eine Wohnung am Landwehrkanal; die Töchter und Söhne hatten ihre Familien gegründet. Die Baugesellschaft wurde um 1910 aus dem Handelsregister gelöscht. Sie hatte ihre Aufgaben erfüllt. Geschaffen war eine hochklassige Wohnlage, im Besitz von bekannten Namen der Berliner Gesellschaft. Den Gründern dürft sie eine ausreichende Rendite beschert haben.(92)

So enden acht spannende Seiten in dem Buch „Die Schwarzen Schafe bei den Gradenwitz und Kuczynski“, auf denen Hans Hinrich Lembke, Hochschullehrer für Betriebswirtschaft und Verfasser mehrerer unernehmenshistorischer Arbeiten, die Entwicklung eines Teils der Potsdamer Straße an einer Jahrhundertwende beschreibt.

Wer war Adolf Gradenwitz und um welche Straße handelt es sich?

Adolf Gradenwitz, 1841 geboren, war Bankier, zunächst Direktor der Niederlausitzer Bank AG in Cottbus. Nach deren Liquidation zog der 1889 nach Berlin in einen Neubau in der Rathenowerstraße, den er 1886 erworben hatte. Seine Berufsbezeichnung war zunächst Kaufmann, später Rentier. Nach sechs Jahren verkaufte er das Haus und zog mit der Familie in die Lessingstraße. Außerdem entschloss er sich zur Karriere des Immoblienkaufmannes – im damaligen Sprachgebrauch „Terrainspekulant“. … Die erste große Investition tätigte er in dem Karree zwischen Potsdamer Straße, Lützowstraße und Am Karlsbad (85).

An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass das minutiös recherchierte Buch ungemein interessante Fußnoten enthält. So zum Beipiel Fußnote 263, die Auskunft gibt über den Verkehrszustand der Potsdamer Straße zu dieser Zeit: „Verkehrszählungen aus dem Januar dieses Jahres haben ergeben, daß die Potsdamer Straße an einem Tage während der Zeit von 6 Uhr morgens bis zwölf Uhr nachts rd. 8700 Fahrzeuge passieren.“ Diese Erkenntnis gab noch im selben Jahre (1897) den Anstoß für eine Verbreiterung der Straße, die zuvor zwischen Lützowstraße und Potsdamer Platz nur eine Dammbreite von 11 – 12 Meter hatte. Deutsche Bauzeitung, 31 (1897) 43, S. 269

Die Potsdamer Straße selbst war zu dieser Zeit bereits dicht bebaut. Hier fanden wohlhabende Bürger keine ruhigen Wohnbedingungen mehr und zogen eher weiter nach Westen. Wenn sie blieben, dann in Privatstraßen, die heute zum Teil noch erhalten sind.

So residierten Am Karlsbad der Maler Carl Begas der Ätlere seit den 1830er Jahren. Sein Sohn Reinhold, ebenfalls Maler und die Bildhauer Friedrich Drake und August Wredow waren ihm gefolgt.

Im sogenannten „Begaswinkel“ ( = zu erreichen von der Genthiner Straße) ließ sich der andere Sohn, Adalbert Begas, nieder. Derselbe Architekt, der diese – noch erhaltenen Villen – baute, also Ernst Klingenberg, baute dann eine Gruppe von sechs Hofvillen auf dem Gelände, das wir heute noch gerne Ex-Tagesspiegel nennen, obwohl es schon längst nur noch drei Villen hat und auch andere Besitzer. Dort lebten und arbeiteten u.a. der Akademiepräsident Anton von Werner und der Kunsthändler Fritz Gurlitt. Diese Villen wurden vom Lärm der Straße durch das Quergebäude Nr. 133 abgeschirmt.

Durch diese Ausgangslage spazierte Adolf Gradenwitz im Jahr 1895. Er wird um die vielen Künstler gewusst haben, deren Anwesenheit das Viertel aufwerten. Um die Königliche Kunsthochschule für Musik, die seit 1883 im Haus Nr. 120 gezogen war und wo u.a. Friedrich Kiel unterrichtete, der in der Lützowstraße 92 wohnte. Auf der anderen Seite hatten die Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen aus Anlass ihres 25-jährigen Bestehens eine neue Mal- und Zeichenschule eröffnet ( = heute Camaro-Stiftung) . Es gab Privatschulen, Ateliers, Kunsthandlungen und Geschäfte für Künstlerbedarfe.

Allein den Villenwinkel in der heutigen Bissingzeile gab es noch nicht. Hierzu Lemke: Die Idee, dieses Potential für den Bau eines „Villen-Winkels“ zu nutzen, hatte vermutlich nicht Gradenwitz, sondern vor ihm ein anderer Bauunternehmer entwickelt. Ein Baugeschäft Garnn & Krantz kaufte zwischen 1892 und 1895 die beiden Häuser 121 und 122 (alte Zählung), die schon an der Einmündung der Privatstraße erbaut waren. Die Pläne zur Entwicklung dieser Straße tragen die Namen Garnn & Krantz (für die Grundrisse) sowie Cremer & Wolffenstein (für die Fassaden). Ein dritter Name findet sich erstmals 1896 im Adressbuch: Eine „Potsdamer Straße Baugesellschaft GmbH“ ist als Eigentümerin der beiden Grundstücke genannt (laut Fußnote 267 waren sie ab 1896 nicht mehr eingetragen). Die Firma war im Vorjahr ins Handelsregister eingetragen worden, mit dem „Rentier“ Adolf Gradenwitz als allein vertretungsberechtigtem Geschäftsführer. (86)

Laut Berliner Börsen-Zeitung Nr. 276 vom 15. Juni 1895 (Fußnote 269) war der benannte Unternehmenszweck die Errichtung von Gebäuden und der Verkauf der Gebäude und Grundstücke. Das Stammkapital belief sich auf 1 Million, ein Hypothekendarlehen auf 4,5 Millionen Mark.

Gesellschafter der GmbH sind laut Lemke nicht bekannt und er stellt Überlegungen an inwieweit Gradenwitz vielleicht doch mit Garnn & Krantz kooperierte oder konkurrierte. Im Zusammenhang mit der Frage nach Konkurrenz oder Kooperation (s.o.) ist bemerkenswert, dass bei Auflösung der Baugesellschaft sowohl ein Baumeister Garnn als auch eine Frau Garrn Hauseigentümer in dem Straßenwinkel wurden – für nur wenige Jahre. Auffällig ist auch, dass Gradenwitz‘ zweite Gesellschaft, die Zehlendorf-West Terrain AG kurzzeitig die Potsdamer Straße 6 (alte Zählung) als Adresse auswies, wo vorher der Baumeister Garnn gewohnt hatte. Möglicherweise wurde er für diese Gesellschaft tätig – Konkurrenz oder Kooperation? (Fußnote 272)

Die zwölf vierstöckigen Mietshäuser mit mehreren Wohneinheiten wurden gebaut vom Architektenbüro Cremer & Wolffenstein, die zeitgleich auch die 1898 in der Lützowstraße eingeweihte Synagoge errichteten. Die zwei bereits bestehenden Häuser wurden umgebaut und ebenfalls in das Ensemble integriert. Das Projekt wurde in einem Artikel „Berliner Wohnbaublöcke“ als ein vornehmes Beispiel mit herrschaftlichen Mietwohnungen“ beschrieben. (Fußnote 274)

Und auf Seite 203f im dritten Band von „Berlin und seine Bauten“ wurden die Privatstraße im Bereich der Potsdamer Straße nicht nur ausführlich beschrieben, sondern die Verfasser resümierten: Wohnungen in derart gelegenen Häusern pflegen wegen der Ruhe, die sie bieten, sehr gesucht zu sein. (Fußnote 274)

So mußte auch Adolf Gradenwitz nicht lange auf Mieter warten. Sie kamen aus dem gehobenen Bürgertum, nur wenige Industrielle mieteten sich ein. Bankbeamte hingegen kamen viele. Die Immobilienbranche war vertreten, etwas Kunstgewerbe, eine damals noch unbekannte Kunsthandlung und der Mitinhaber eines alteingeesessenen Kunsthauses. Ein Jurist und zwei Architekten. Ein Professor für Malerei und eine Malerin nahmen ebenfalls Quartier. Und auch die links-bürgerliche Intelligenz fand ein zu Hause.

Terraingesellschaften und Architekten gehörten zum Berufsmilieu des Adolf Gradenwitz, Künstler zur Zukunftswelt seiner älteren Tochter. Als die Familie in den Villen-Winkel zog, war Berta Gradenwitz 18 Jahre alt. Über ihre Ausbildung ist wenig bekannt; in den Erinnerungen ihres Sohnes war sie ein (nicht überragend) begabte Malerin. ….. Zu vermuten ist auch, dass sie dort [im Haus des Künstlerinnenvereins in der Potsdamer Straße] eine Zeitlang Schülerin war. (89)

Als das Werk vollendet war, wandte sich Adolf Gradenwitz endgültig der Region um den Schlachtensee zu, den er schon seit 1894 im Auge hatte.

Und die Straße? Fußnote 268: Die „Potsdamer Privatstraße“ (inoffizieller Name) wurde 1936 nach einem General Bissing benannt („Bissingzeile“). Bissing war im 1. Weltkrieg der deutsche Generalgouverneur in Belgien; er zielte auf eine Angliederung der flämischen Gebiete an das Deutsche Reich. Erst 1955 wurde die Zeile zur öffentlichen Straße; die Benennung blieb unverändert.