Schlagwort-Archiv: Geschichte

Die AnwohnervertreterInnen zum Gleisdreick sind gewählt

Ich übernehme hier den Bericht von Matthias Bauer – der auf dem Gleisdreieck-Blog darüber berichtet:

Kontinuität und Neuanfang
Anwohnervertreter/innen Gleisdreieck neu gewählt
27. 05. 2011
Die Veranstaltung zur Neuwahl der Anwohnervertreter/innen am vergangenen Mittwoch im Gemeindesaal Wartenburgstraße war gut besucht und ist in sachlicher und konstruktiver Atmosphäre verlaufen. Das Ergebnis der Wahl ist eine Mischung aus Kontinuität und Neuanfang. Gewählt wurden Klaus Trappmann, Norbert Rheinlaender und Volkmar Wohlgemuth als Anwohnerverteter, Matthias Seidenstücker, Elisabeth Meyer-Renschhausen und Edelgard Achilles als Stellvertreter/innen.
Weitere Infos zu Wahl findet Ihr hier:
Bericht Wahlveranstaltung Gleisdreieck am 25.05.11., pdf-Dokument

Über Erinnerung stolpern

Von HU-Gastbloggerin Hannah Frühauf

Eine Musiklehrerin die den Freitod wählt um einer Verschleppung nach Theresienstadt zu entkommen. Ein Geschäftsmann der mit seinen beiden Söhnen deportiert und ermordet wird. Eine Familie die im Widerstand aktiv war und dafür sterben musste.

Über diese drei Schicksale kann man – neben vielen anderen – rund um die Potsdamer Straße „stolpern“. Kleine Messingplatten, die in den Boden gesetzt wurden erinnern als „Stolpersteine“ an das Leben von Maria Leo, an das von Abraham Fromm und an das von Betty, Peter und Hans Lippmann. Sie alle wurden von den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg ermordet.

Der Kölner Künstler Gunter Demnig hat mit der Verlegung von so genannten „Stolpersteinen“ in den 90er Jahren begonnen. Er möchte so an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Die „Stolpersteine“ enthalten die biographischen Eckdaten einzelner Personen. Ihr Name, ihr Geburtsjahr, das Datum ihrer Deportation oder der Ort ihrer Ermordung – werden in eine Messingplatte eingraviert und von Demnig in den Boden gesetzt. Die Steine werden meist dort verlegt, wo die Menschen gelebt oder gearbeitet haben – bevor sie deportiert beziehungsweise ermordet wurden.

Vor den Hausnummern 3 und 12 der Pallassstraße (Berlin-Schöneberg) findet man die „Stolpersteine“ die an Betty, Peter, Hans Lippmann und an Maria Leo erinnern. Der Stein, der in Gedenken an Abraham Fromm gesetzt wurde, befindet sich in der Potsdamer Straße 102 (Tiergarten-Süd).

Hinter den „Stolpersteinen“ verbergen sich zahlreiche ergreifende Biographien – wie beispielsweise die von Maria Leo (1873-1942). Maria Leo war eine engagierte Musiklehrerin und gründete das erste private Musik-Seminar für Frauen. Diesen war um 1911 offiziell der Zugang zum Institut für Kirchen- und Schulmusik verwehrt. Lange war das Seminar die einzige Möglichkeit für Frauen, ein Musikstudium zu absolvieren. Unter der Nationalsozialistischen-Herrschaft musste Maria Leo all ihre Ämter aufgeben, da sie Jüdin war. 1942 wählte sie den Freitod, um einer Verschleppung in das Konzentrationslager Theresienstadt zu entkommen.

Wer sich genauer über einzelne Schicksale informieren möchte, für den ist die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg eine interessante Anlaufstelle. Hier werden Biographien von Menschen vorgestellt, die im Zweiten Weltkrieg aus dem Bayerischen Viertel – genauer aus Schöneberg und Friedenau – deportiert wurden oder geflüchtet sind. Kleine Markierungen, die an einigen Portraits zu finden sind, deuten daraufhin, dass für diese Person auch ein Stolperstein verlegt wurde.

Eine Karteikartensammlung gehört ebenfalls zu der Ausstellung. Im Stil der „Stolpersteine“ findet man auf den Kärtchen biographische Eckdaten von 6.069 jüdischen Frauen und Männern, die während des Zweiten Weltkriegs gezwungen waren das Bayerischen Viertel zu verlassen. Die Informationen stammen aus Unterlagen der Geheimen Staatspolizei. Die Gestapo hatte damals ausführlich dokumentiert, welches Vermögen die Menschen bei ihrer Deportation aus Schöneberg zurückließen.  

Die Straßen und Hausnummern in denen die Jüdischen Familien zuletzt wohnten sind ebenfalls auf den Kärtchen vermerkt. Eine Mitarbeiterin der Ausstellung erzählt, dass viele Menschen aus der heutigen Nachbarschaft des Bayrischen Viertels die Ausstellung besuchen. Sie kommen um nachzusehen ob und wer aus dem Haus – in dem sie jetzt wohnen – deportiert wurde. Von manchen Adressen aus – wie zum Beispiel aus der Bozenerstr. 9 – wurden bis zu 30 Familien deportiert. Berührt von den Geschichten, die sich in ihren Häusern und Wohnungen abgespielt haben, entschließen sich einige der Besucher Stolpersteine für die Deportierten verlegen zu lassen. Aus bloßen Namen und Daten werden so lebendige und berührende Geschichten, die an den Schrecken und den Terror des Nationalsozialistischen Regimes im Zweiten Weltkrieg erinnern.

Eine tolle Zeit am Falk Realgymnasium

Von HU Gastblogger Ines Sieland

„Kein Kind darf allein gelassen werden“, sagt  Jutta Schauer-Oldenburg.
Wir sitzen bei einer Tasse Tee in ihrer gemütlichen Wohnung in Berlin-Moabit. Die 72 Jahre merkt man ihr wirklich nicht an. Sie ist eine lebensfrohe Frau mit einem sehr guten Gedächtnis und nimmt mich mit auf eine Reise zurück in ihre Schulzeit.

Das Falk Realgymnasium war eine Mischung aus Realschule und Gymnasium, geteilt in einen technischen und wissenschaftlichen Zweig. Jutta Schauer Oldenburg besuchte von 1950 bis 1954 (7. bis 10. Klasse) den technischen Zweig und erwarb den Realschulabschluss.

In dem damaligen Gebäude ist heute die Grundschule Tiergarten-Süd untergebracht, welche 2010 aus der Fusion der Fritzlar-Homburg Schule mit der Grips-Grundschule entstanden ist.

Heutige Grundschule Tiergarten-Süd

Es war eine sehr bewegte Schulzeit: der Zweite Weltkrieg war vorbei, Nachkriegsjahre, Berlin war besetzt und geteilt. „Die Besetzungszeit haben wir durch den 17. Juni 1953 erlebt und die Nachkriegszeit an der Schulspeisung gemerkt“, erinnert sie sich. Sie strahlt, wenn sie an ihre Schulzeit zurückdenkt, denn es war eine „schöne Zeit“.

Die Schule hatte einen musischen und sportlichen Schwerpunkt. Es gab einen Schulchor, die Schüler konnten bei Theateraufführungen oder Sportwettkämpfen ihr Können unter Beweis stellen. Es wurde auch viel gefordert. Den Anspruch könnte man mit dem des heutigen Gymnasiums vergleichen, meint Jutta Schauer-Oldenburg.

Neben ihrem Vater hat sie auch ihr damaliger Schuldirektor Dr. Franke geprägt. „Er war sehr dafür, dass die jungen Menschen, die in seiner Obhut waren, auch etwas lernten. Aber er hat auch sehr viel Wert darauf gelegt, dass wir soziale Kompetenzen, wie Zivilcourage und Demokratieverständnis erlernten.“

Jutta Schauer-Oldenburg war 45 Jahre Krankenschwester mit ganzem Herzen und zeigt heute immer noch Zivilcourage. Sie engagiert sich als Quartiersrätin für ihren Kiez Moabit und ist als Fraktionsvorsitzende der Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Mitte tätig.

„Der Klassenverbund war spitze!“ sagt sie freudig über ihre Schulzeit. Noch heute haben die ehemaligen Schülerinnen und Schüler guten Kontakt und veranstalten regelmäßig Klassentreffen.

Verglichen mit der heutigen Zeit stellt sie fest, dass die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede nicht so groß waren. Es gab nicht so viel; man war auf dem gleichen Level. Die Schere zwischen arm und reich, Chancengleichheit und -ungleichheit ist heute viel größer.

Für Jutta Schauer-Oldenburg war die Schule sehr wichtig, denn sie war nicht nur Lernanstalt sondern gab auch Rüstzeug für das Leben mit. „Lernen ist der Faktor, um später Chancengleichheit zu haben und eine gesellschaftliche Teilhabe zu erleben. Die Kinder heute sind nicht schlechter oder besser als wir früher waren, doch sie scheinen irgendwie vergessen.“

Sie wünscht den Kindern eine solche Persönlichkeit, wie ihren Direktor
Dr. Franke, der ihnen etwas mit auf den Weg gibt. Die Schule muss stabilisieren. Es sind vielleicht kleine Einsteins, nur es merkt keiner.“, sagt sie. „Kein Kind darf allein gelassen werden.“

109 Jahre U-Bahnhof Bülowstraße

Heute vor 99 Jahren [109 Jahren Äham, Hüstel – das ist natürlich schon 109 Jahre, wie Axel vom Berliner U-Bahn-Archiv vollkommen richtig im Kommentar bemerkt – bzw heute schon 109 und 4 Tage] kam ein neues Geräusch an die Bülowstraße. Rattern, Brems- und Türgeräusche, Ansagen, Schaffnerpfiffe. Am 11. März 1902 wurde der U-Bahnhof Bülowstraße eröffnet.

Na endlich, mögen die AnwohnerInnen gesagt haben. Denn nicht nur der Bau, allein die Planungen hatten 16 Jahre gedauert. Die Berliner Stadtväter waren stur und ließen den Unternehmer Werner Siemens immer wieder antreten, bis er ihnen genügend Argumente geliefert hatte, dass dass eine Hoch- und Untergrundbahn die zunehmenden Verkehrsprobleme der Millionenstadt beheben konnte. Dabei nannte er prominente Vorbilder wie die Hochbahn in New York.

Der Berliner hat im allgemeinen wenig Witterung für bahnbrechende neue Gedanken,“ hatte bereits 1901 Hans Schliepmann in dem Artikel „Die Berliner Hochbahn als Kunstwerk“ der Berliner Architekturwelt von 1901 geschrieben.

Damit traf die Publikation den Nagel in zweierlei Hinsicht auf den Kopf. Zum einen war die Hochbahn, die den Osten und Westen verbinden sollte, deshalb abgelehnt worden, weil die Stadtväter sie also zu unästhetisch für die noble Friedrichstraße oder Unter den Linden erachteten.

So wurde sie halt durch die Arbeiterviertel Kreuzberg und Schöneberg geführt. Hier warf man dann einen architektonischen Köder aus. Die Bahnhöfe sollten von namhaften Architekten gestaltet werden. So wurde die „Hochbahn zum Kunstwerk“.

Für den U-Bahnhof Bülowstraße erhielt Bruno Möhring, der Stararchitekt des deutschen Jugendstils, den Auftrag. Später war er an Wohnprojekten in Wedding, Weißensee und Neukölln beteiligt und bekannt für seine Entwürfe der Blockrandbebauung mit begrünten Innenflächen.

Quelle: Berliner U-Bahn-Archiv

Prompt erklärte Hans Schliepmann, die Bülowstraße sei aufgrund von Möhrings Jugendstilarchitektur „nicht nur nicht „verschandelt“, sondern zur originellsten, interessantesten Straße Berlins geworden.“

Als zunächst erschreckend wurde auch der Hausdurchbruch am Dennewitzplatz erachtet. Doch letztendlich ließ er nicht die Mieter fliehen, sondern brachte Touristenschwärme, die die technische Meisterleistung in den unter der Durchfahrt lokalisierten „Akademischen Bierhallen“ diskutierten. Die Berliner Schnauze erfand den Begriff „Pastorenkurve“ für den Teil der Strecke, die sich in sanfter Beugung um die damalige Lutherkirche (heute American Church) schmiegte.

Die Nörgler verstummten und fanden sogar Gefallen am Flanieren auf dem schattigen und regenfreien Weg unter dem Viadukt. Doch bahnten sich hier auch bald anderer Geschäfte an. So schrieb Paul Zech 1924 folgendes Gedicht vom Bülowbogen:

Maxe mit der Brühwurst ist schon aufgezogen,
und im milden Licht der Bogenlampen
manchmal kommt auch eine von den Schlampen
wie ein großer Weidenschwärmer angeflogen.

Und es spricht der Schupo zu der Alabaster-
weißen Dame mancherlei vom Wetter und dass morgen
dienstfrei wäre und man auch so seine Sorgen
mit der Liebe hätte bei dem knappen Zaster.

Mittlerweile hat die Hochbahn aufgehört zu kreischen,
und die Luft in den Cafés ist dick zum Schneiden.
Nur die Männer können sich noch immer nicht entscheiden
für die Nachtgemahlin unter den massiven Fleischen.

Und sie suchen auch noch draußen in dem Haufen
aller Laster sich herumzudrücken vor dem letzten
Glockenzeichen, bis sich zu herabgesetzten
Handelspreisen auch die Minderjährigen verkaufen.

Die jüngere Geschichte mag vielen BerlinerInnen noch geläufig sein. Die schweren Kriegsschäden wurden renoviert, doch dann reduzierte der Berliner Mauerbau die Fahrgastzahlen auf dieser Strecke so sehr, dass sie 1972 geschlossen wurde. Statt dessen wurden U-Bahn Wagons stationiert und die Station zunächst als Berliner Trödelmarkt und später als Türkischer Basar genutzt. Seit 1993 rumpeln und quietschen die Züge der U2 wieder von Ost nach West.

Und Schliepmann behielt Recht. „Es wird die Zeit kommen, wo er (der Berliner) auch auf seine Hochbahn, trotz mancher Fehler derselben, sehr stolz sein wird,“ hatte er prophezeit.

So finden sich zum Beispiel auf der Plattform Flickr unter dem Stichwort Bülowstraße viele Bilder des Bahnhofs.

Und auch im Film „Unknown“, der im März 2010 in die Kinos kam, ist der U-Bahnhof eine Kulisse.

„Oh, Bülow du“ (Hausbesetzerreminiszenzen)

Anfänge in Schnee mit Sonnenblumen

Weißt du noch wie der hieß – Erinnerst du dich nicht mehr daran – da war irgendwas mit einem Drogendealer im anderen Aufgang und deshalb mussten wir Nachtwache schieben – Meine heroischen Kämpfe für Schwarzstrom. Den illegalen Kabelanschluss gibt’s bestimmt noch immer. Lass uns nachgucken.


Am 31. Januar 1981 öffneten die ersten Besetzer die Türen der Bülow 52. Das 30jährige Jubiläum wurde am vergangenen Wochenende groß gefeiert. Innerhalb von wenigen Wochen waren über 350 ehemalige BewohnerInnen auf dem Weg einer internen Webseite gefunden worden. Schon dort wurden Bilder ausgetauscht, Erinnerungen. Auch diejenigen, die erst am Tag zuvor angerufen wurde, hatte es schon längst über drei andere und ihren Friseur gehört.  

Danke an die, die das Haus besetzt haben. Wir haben hier trotz Stress, soziale Kompetenz und Instandbesetzung gelernt und das Haus für unsere Kinder erhalten. Die Arbeit hat sich gelohnt.

Sagte einer und sprach allen anderen aus Alle sind sich einig. Von denen, die jetzt 50-60 sind, über Jüngere Jugendliche, hin zu Kindern. Es ist ein Generationenfest. Es gibt eine Fete, Reden, eine Ausstellung, Musik, Gespräche, Gespräche.

Die ersten Besetzer von 81 gingen schon nach ein paar Jahren wieder. Sie sagen es seien die intensivsten Jahre ihres Lebens gewesen. Andere leben bis heute hier. Sie befinden sich an diesem Abend in einem kontinuierlichen deja-vu, je nachdem welchen Menschen sei aus welcher Phase begegnen.

Wer war Erstbesetzer“, „wer hat aufgeschlossen.“ „Ich bin erst nach zwei Monaten gekommen.“ „Ich war die erste, die hier ein Kind bekam.“ Bei der Wiederbegegnung gibt es klare Abstufungen. Rückkehrerinnen gehen durch die Aufgänge, schauen in ihre alten Wohnungen. Teilweise, ohne sie wiederzuerkennen. Sie stehen im Hof und deuten auf Fenster und Fassaden. Lassen sich die neuen Strukturen erklären. Es gibt jetzt einen Beachvolleyballfeld hinterm Haus – Wahnsinn.  

Die „Günter Grass Ecke“ auf dem Dachboden wird in ironischer Ehre gehalten. Er hielt hier eine Lesung, unterstützte die Besetzer. Und wieder kommt die Sprache auf „Wo eigentlich das Plakat hin ist, das Christo damals gespendet hat“ – eine Art Sponsoring halt – verweht in der Zeit.

In einem Aufgang waren die Frauen dominant. Einer erinnert sich: dort sei die Atmosphäre anders gewesen, nicht so aggressiv, sondern konstruktiver. Das fanden die Frauen auch. Früh gab es Diskussionen um die Einrichtung von Frauenküchen und Männerküchen. Ein anderer durfte in der Frauenküche bleiben und lernte nachhaltig, dass es da unterschiedliche Bedürfnisse gab.  

Das Mann/Frau-Thema war ein Thema definitiv. Ein 20-minütiger Spielfilm wurde darüber gedreht. Die Protagonistinnen schauen sich 30 Jahre später das Machwerk mit Humor an. 8Mm-Film, die Kamera surrt, die Sprache nimmt alle mit zurück in die 80er Jahre.  

Es gab eine spinnerte Katze, die griff alle an, die besoffen nach Hause kamen. Die Versuche, sie beim Besitzer im ersten Stock zu verbannen schlugen fehl. Sie hat eine eigene Sequenz im Film.  

Ein Aufgang hatte Telefon. Das hatte einer – dank eines freundlichen Postbeamten – aus der Goebenstrasse mitgebracht. Es lief auf den Namen Teddy Podgorski, so wie auch das Zeitungsabo und die Anmeldungen beim Einwohnermeldeamt.

Es gab einen Selbstmord in der Zeit.

Konflikte zwischen den Aufgängen wurden in der nahe gelegenen Pizzeria an nach Aufgängen getrennten Tischen diskutiert. Gab es nach mehreren Bieren doch Verbrüderungen, wurden die wiederum am nächsten Tag heftig diskutiert.  

Es gab einen im Bett entleerten Müllsack. Eine besondere Art der Auseinandersetzung.

Diskussionen ohne Ende. Man rang um die Strukturen, stritt. Man rannte los, wenn andere Häuser geräumt werden sollten und demonstrierte um wichtiges. Und man baute baute baute baute. Setzte instand. In vielen Häusern ringsumher schlug die Abrissbirne ein. Hier in der Bülow entstand bis heute gültiger Wohnraum.

„Ach Bülow du, ich lebte gerne hier, war überzeugt es könnte ewig so weiter gehen.“ Vorbei ist es auf keinen Fall. Da ist noch viel.

Gertrude Sandmann – eine Entdeckung

Was für eine Ausstellung!

Der Besuch im Haus am Kleistpark fand statt, um für eine Recherche dieses Haus zu sehen. Es ist von Schließung bedroht. Und dann die lichtdurchfluteten Räume im dritten Stock. Blick auf Zeichnungen von klarer Schönheit, kraftvolle Pinselstriche, wundervolle Frauenporträts.

Gedanken an andere, wichtige Ausstellungen, die das Haus am Kleistpark kuratiert hat. Im August 2009 gelang es ihnen mit der Ausstellung „Maikäfer flieg“ die Anwohner/innen für die Geschichte des Hochbunkers in der Pallasstraße zu begeistern. Sie zeichnen verantwortlich für die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“, die jetzt zur Dauerausstellung geworden ist. Und das will der Bezirk Tempelhof-Schöneberg durch Schließung aufs Spiel setzen? Doch das ist eine andere Geschichte.

Gertrude Sandmann war Künstlerin und kämpfte Zeit ihres Lebens um die Emanzipation der Frauen. Ihre Zeichnungen sprechen für sich. Und dankenswerter Weise sind in der Ausstellung derer viele zu sehen.

In Vitrinen sind unter anderem Tagebücher der Künstlerin ausgestellt. Ebenso ein Katalog von einer Ausstellung der Künstlerin aus dem Jahr 1968. Gemeinsam mit der Bildhauerin Annemarie Haage waren ihre Werke schon einmal im Haus am Kleistpark zu sehen. Zu einer Zeit also, als Gertrude Sandmann nicht mainstream war, wurde sie hier der Öffentlichkeit präsentiert.

Gertrude Sandmanns außergewöhnliche Biographie vereint gleich mehrere Geschichten. Man kann sie als Beispiel für die Geschichte der künstlerischen Emanzipation der Frau, als ein Beispiel für die Geschichte der Emanzipation der Frau im Allgemeinen und den Überlebenskampf einer Jüdin während der Schoah lesen. Obwohl die Zeit in vielerei Hinsicht gegen sie war, ist sie sich Zeit ihres Lebens treu geblieben, ist für ihre Überzeugungen eingetreten und hat um ihr Recht auf Selbstbestimmung gekämpft.

Anna Havemenn - Getrude Sandmann

So Anna Havemann in einer Biographie, die im Zusammenhang mit der Ausstellung in der Reihe Jüdische Miniaturen des Hentrich&Hentrich Verlages und Centrum Judaicum erschien.

In der Biographie zeigt sich, dass Gertrude Sandmann vieles mit der Potsdamer Straße verbindet. Geboren 1893 im Prenzlauer Berg geboren, wuchs sie auf Am Karlsbad 11 (Ecke Flottwellstraße). Ihre Eltern hatten eine 20.000 Bände umfassende Bibliothek. Darunter viele Kunstbücher, denn ihr Vater sammelte Kunst.

Als sie studieren wollte, war der Zugang von Frauen zu den Universitäten fast unmöglich. In Berlin,…., setzte sich der konservative akademische Maler Anton von Werner (1843-1915) während seiner Zeit als Akademiedirektor (1874-1915) nachdrücklich gegen die Aufnahme von Studentinnen zur Wehr. (14)

Anton von Werner lebte und arbeitete damals in einer privaten Stichstraße, die von der Potsdamer Straße abging. Das Haus ist heute noch erhalten, Teil des leerstehenden Tagesspiegel-Geländes und unter Denkmalschutz.

Schräg gegenüber, im Hof der heutigen Potsdamer Straße 98, eröffnete der erste Berufsverband für Künstlerinnen in Deutschland eine Schule für Malerinnen. Paula Modersohn-Becker und Käthe Kollwitz studierten dort. Letztere unterrichtete von 1898 bis 1903 an der Schule, lernte Gertrud Sandmann kennen und schätzen.

Käthe Kollwitz über Gertrude Sandmann

Trotz der beruflichen Schwierigkeiten nahmen Ausstellungen von Frauen zu. Im Umkreis der Potsdamer Straße waren diese in der Sturm-Galerie von Herwarth Walden, dem Kunstsalon Gurlitt und der Galerie Paul Cassirer zu sehen. Die Ausstellungsbeteiligung von Frauen stieg im Druchschnitt seit dem Ende des Ersten Weltkrieges von 10 auf 27 Prozent am Ende der 20er Jahre. (20). Es ist anzunehmen, dass Gertrude Sandmann dabei war, denn sie beendete ihr Studium 1923 und lebte gemeinsam mit ihrer Mutter Am Karlsbad 11, in dem sie eine eigene Wohnung hatte.

Bereits in den 20er Jahren bekannte sich Gertrude Sandmann zu ihrer Homosexualität und war auch damit in Schöneberg gut aufgehoben, denn in der Bülowstraße, der Zieten- und Schwerinstraße gab es unzählige lesbische Clubs und Vereine. Die ablehnende Haltung der Jüdischen Gemeinde gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen war mit ein Grund dafür, dass Gertrude Sandmann 1926 aus der Jüdischen Gemeinde austrat. (24)

Durch ihre politische Aktivierung sah sie das nationalsozialistische Unheil früh und klar:

Nazi! – Kulturfeindlich! Antiliberal! Anti-Geist! Rückschritt!
Sie schaffen Gegensätze zwischen den Menschen statt Menschheit, Grenzen zwischen den Ländern, statt Erdgemeinschaft.
Gegen die Frauen! Muskel statt Kopf! Faust statt Geist! Gegen die Juden!
Ich war, leider, ich schäme mich, nie judenfreundlich, (Abwehr!) […] will nicht so sein, das Ähnliche ist am verhasstesten. Aber jetzt, es wäre feige, sich jetzt nicht als Jude zu bekennen! Die Juden müssen jetzt betont Juden sein […]. Tagebucheintragung, Mai 1932 (6)


1934 wurde sie aus dem Reichsverband bildender Künstler ausgeschlossen. 1935 bekam sie Berufsverbot.

Die emanzipatorischen Bestrebungen der homosexuellen Bewegung wurden von den Nationalsozialisten unterbunden. Lesbische Frauen wurden jedoch nicht explizit verfolgt, da die Nationalsozialisten diesen Lebensentwurf schlichtweg nicht ernst nahmen. Wenn sie inhaftiert wurden, dann aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft oder kommunistischen Partei.

Gertrude Sandmann war als Jüdin, als Frau und als Vertreterin der modernen Kunst Repressalien ausgesetzt. In ihrem Tagebuch schildert sie die Situation und Demütigungen genau. Sie ging 1942 in den Untergrund, täuschte einen Selbstmord vor und konnte so überleben. Die Kapitulation Nazideutschlands erlebte sie im Versteck in der Eisenacher Straße 103.

Sie bekam eine Wohnung in der Eisenacher Straße 89 zugewiesen und stellte einen Antrag auf Entschädigung im Falle von „Schaden im beruflichen Fortkommen“. Der Stadtbezirk Schöneberg stellte ihre Werke mehrmals aus.

1974 schrieb Eva Kollwitz, die Tochter von Käthe Kollwitz in einem Katalog über sie: Sie tritt nicht nach außen: wörtlich, wie sinngemäß, aber in ihrer Zurückgezogenheit ist sie von heiterer Ruhe und dem Menschen zugewandt. Sie schafft ihre eigenen Paradiese, […] Es gibt Arbeiten der reinen Freude neben dem Schweren […]. Eine Eierschale schimmert wie Mondlicht, eine Frucht vermittelt das sinnliche Erlebnis des Schmeckens. […] Es gibt kein Frühwerk und kein Spätwerk der Sandmann: ein Akt der Zwanzigjährigen ist genauso ein zeichnerischer Wurf, wie er der Achtzigjährigen eigen ist. (78/79)

Gertrude Sandmann starb 1981.

Die Ausstellung ist bis 3. April 2011 geöffnet
Öffnungszeiten: Di – So von 10 bis 19 Uhr
Eintritt frei.
HAUS am KLEISTPARK,
Kunstamt Tempelhof-Schöneberg
Grunewaldstraße 6 – 7
10823 Berlin
Tel.: 90 277-6964

„Hallo, du süße Klingelfee“ – die Zeiten sind vorbei

Am 29. Januar 1974 wird in der Winterfeldtstraße 21 ein Rekord gebrochen.
4.956 BerlinerInnen haben sich zu nachtschlafender Zeit über das Telefon wecken lassen. Mehr als jemals zuvor bei den amerikanischen Apollo-Raumfahrten oder zu Beginn der Sommerferien.
Sie wollen den legendären Kampf zwischen Muhammed Ali und Joe Frazier im Madison Square Garden in New York nicht verpassen.

Von der Pallasstraße aus gesehen

Der Weckdienst war nur einer von vielen Dienstleistungen, die die Deutsche Post zu der Zeit in der Winterfeldtstraße anboten. Hinter der 90 Meter langen Fassade arbeiteten zeitweise bis zu 5.000 Menschen. 240 Fräuleins vom Amt sassen in einem Raum. Sie handvermittelten über bis zu 50.000 Gespräche täglich, sagten bis zu 30.000 Anrufer/innen wie späte es sei und schauten bis 20.000 nach einer Telefonnummer.

Die Fräuleins vom Amt waren beliebt. Der Ohrwurm „Hallo, du süsse Klingelfee“, komponiert 1919 von Robert Stolz, huldigte ihnen.

Von Beginn an war das Fernmeldeamt in der Winterfeldtstraße war ein Projekt der Superlative. Als der expressionistische Bau am 18. Mai 1929 eröffnet wurde, hatte seine Konstruktion sechs Jahre gedauert und 6,2 Millionen Mark verschlungen. Die Architekten Spalding und Kuhlow hatten hinter dem mit rotbraunem Klinker verblendeten Vordergebäude einen kreuzförmigen Grundriss geplant. Das Kernstück waren zwölf riesisge Säle, viele so groß wie ein Tennisplatz, alle sieben Meter hoch.

Eingang Winterfeldtstraße

Es galt als modernstes Fernamt der Welt. Während der Olympiade 1936 fand die Rundfunkübertragung aller Reportagen zu den ausländigen Rundfunkanstalten hier statt. Mit dem Zweiten Weltkrieg wurden Stahlbetondecken eingezogen, denn auch alle dienstliche Verbindungen wurden von hier geschaltet. Ab 1943 mussten Zwangsarbeiter unter brutalsten Bedingungen einen Schutzbunker in der Pallasstraße errichten. Er wurde nie vollendet, denn am 28. April 1945 traf die Rote Armee in Schöneberg ein.

Als die Amerikaner den Sektor drei Monate später übernahmen, stellten sie fest, dass die Russen zwei Drittel der technischen Anlagen mit einem Wert von 13 Millionen Mark demontiert und ostwärts verschifft hatten.

Schnell nahm der „Drahtfunk im amerikanischen Sektor (DIAS – Vorläufer des RIAS) seinen Betrieb und blieb bis 1948. Der Anlaß für die Gründung des Senders war die Weigerung der sowjetische Besatzungsmacht, den anderen Siegermächten Sendezeiten im Programm des Berliner Rundfunks einzuräumen.

„Am 7. Februar 1946 nahm der neue Sender als „Drahtfunk im amerikanischen Sektor“ (DIAS) im Fernmeldeamt Berlin-Schöneberg in der Winterfeldtstraße, einem technisch nur notdürftig für diesen Zweck hergerichteten Gebäude, seinen Sendebetrieb mit einem siebenstündigen Tagesprogramm auf,“ schreibt Wilfried Rogasch in „Ätherkrieg über Berlin – Rundfunk als Instrument politischer Propaganda“. „Der Drahtfunk war für die Berliner eine Erinnerung an die Bombennächte des Zweiten Weltkrieges: „Luftlagemeldungen“ wurden während der Endphase des Krieges über Drahtfunk verbreitet, weil auf diesem Wege keine vom Feind über den Äther verbreiteten Falschmeldungen empfangen werden konnten. Technisch konnte der DIAS aber keine Konkurrenz für den „Berliner Rundfunk“ bedeuten. Während letzterer bereits am 1. Oktober 1945 wieder 483.000 angemeldete Rundfunkteilnehmer verzeichnen konnte, gab es nach Auskunft des Fernmeldeamtes im amerikanischen Sektor Anfang 1946 nur etwa 500 intakte Drahtfunk- und 1000 Telefonanschlüsse, so daß der DIAS zunächt nur auf maximal 1500 Empfängern zu hören war. Wie die amerikanischen Programmacher aus Umfragen erfuhren, fanden in den Geburtsstunden des DIAS tatsächlich nur ganz wenige Hörer unter rasselnden und pfeifenden Geräuschen das DIAS-Programm.“

Die Blockade von Berlin unterband auch die Funkverbindungen nach Westdeutschland. Statt dessen zog der Telegrammdienst ein. 1950 dann das Funkamt, dass die Aufgaben des Richtfunks, der Funkmeßdienste, des Rundfunk und der Fernsehübertragung, sowie des Autotelefons übernahm.

Bevor am 1. Mai 1959 der vollautomatische Fernsprechdienst begann, stieg die Zahl der handvermittelten Ferngespräche stetig an, teilweise bis zu insgesamt 13.142 Vermittlungen am Tag. gegeben. Die Zeiten der süssen Klingelfee waren endgültig vorbei.

Von nun an nimmt das Telefonieren eine rasante Entwicklung. Doch im Fernmeldeamt 1 in Schöneberg werden noch andere Dienste angeboten. 30.000 BerlinInnen rufen täglich an und wollen wissen, wie spät es sit. Und wer 118 wählte landete im Halbdunkel bei der Fernsprechauskunft, denn die Mikrolesegeräte waren bei gedämpften Licht besser zu bedienen. Jeder Auskunftsplatz hatte all 18 Millionen Nummern aus dem Bundesgebiet und Berlin parat. Die 850 Mikrofilmkarten in Schulheftformat waren handlicher als die insgesmat 70 Kilogramm schweren und 1.50 Meter hohen Stapel Telefonbücher.

Die Westalliierten reservierten während der Teilung der Stadt eine Etage für sich, zu der Mitarbeiter der damaligen westdeutschen Bundespost keine Zutritt hatten. Die Briten gingen hier ein und aus, allerdings in geheimer Mission. Bis zu ihrem Abzug hörten sei von hier aus die Telefone der halben Stadt ab.

Fernmeldeamt.jpg

Inzwischen ist es still geworden in und um das Gebäude herum. Fast alle gehen an der 90 Meter langen Fassade vorbei. Fermeldetechniker betreten das Haus und warten die Computer, über die die Datenleitungen aller Schöneberger Haushalte laufen. Und sie verrichten von hier aus ihren Außendienst.

Außerdem ist seit Anfang 2010 eine Abteilung der Telekom Laboratories, ein Forschungs- und Entwicklungslabor untergebracht. Aus Sicherheitsgründen ist das Gebäude nicht öffentlich zugänglich.

Protestschrift: Empört euch!

In Frankreich macht zur Zeit die Schrift „Indignez-vous“ von Stephàne Hessel Furore. Auf 23 Seiten fordert der in Berlin geborene Résistancekämpfer zu eigenverantwortlichem Handeln auf, damit Diskriminierung, die Schere zwischen Arm und Reich und die Macht der Finanzmärkte sich nicht verschärfen.

Gero von Randow schreibt in der ZEIT: Stephàne Hessel bezieht sich auf Sartre, den er 1939 in Paris kennengelernt hatte: Jeder ist, als Einzelner, verantwortlich. Und erst im Engagement schafft sich das Individuum selbst. Hessel fährt fort: »Die schlimmste aller Haltungen ist die Indifferenz, ist zu sagen: ›Ich kann für nichts, ich wurschtel mich durch.‹ Wenn ihr euch so verhaltet, verliert ihr eine der essenziellen Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit, sich zu empören, und das Engagement, das daraus folgt.«

Hessel ist durch die Themen Engagement, Diskriminierung, Gentrifizierung und auch die eigene Biographie eng mit der Potsdamer Straße verbunden.

Sein Vater, der Flaneur Franz Hessel war Lektor im Verlag von Ernst Rowohlt in der Potsdamer Straße 123B. In dem Buch „Ein Flaneur in Berlin“ beschreibt er unter anderem die Straße (damals gab es hier noch Leierkastenmusik) und das Verlagshaus (GmbHs mit abgekürtzen Namen, Abwaltbüros und Ärztesprechzimmer).

Franz Hessel starb 1941 im Exil in Frankreich. Sein Sohn Stephàne Hessel überlebte das Konzentrationslager Buchenwald und lebt seit 1945 in Frankreich.

Nissim Zacouto in der Lützowstraße

Menschen machen Orte lebendig. Und Menschen bekommen durch ihren Namen eine Identität.

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Der Ort in Tiergarten-Süd, von dem ich hier spreche, ist die Lützowstraße 111 (Ecke Flottwellstraße). Auf dem heutigen Brachgelände, war Anfang des 20. Jahrhunderts die erste Synagoge osmanischer und türkischer Juden in der Stadt.

Dort war Nissim Zacouto Schatzmeister. Im Jahr 1907 reiste er das erste Mal aus Konstantinopel nach Berlin, erkannte den Markt für Teppiche, zog mit Frau Norma und Sohn Fred hierher, baute eine Großhandlung auf und belieferte Wertheim ebenso wie das KaDeWe.

Als türkischer Staatsbürger war Zacouto nach 1933 zwar anfangs vor direkten Übergriffen geschützt. Da einige Konkurrenten antisemitischen Rufmord betrieben, wurden ihm aber ab 1935 die dringend benötignten Devisen nicht mehr zugestanden. Als im 1938 die türkische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, entschloss sich Zacouto endgültig zur Auswanderung. Es gelang ihm, den Status eines protegé spécial français zu erlangen und 1939 mit seiner Familie nach Frankreich auszuwandern. Seine wertvollen Teppiche, die er zurücklassen musste, wurden an nicht-jüdische Konkurrenten verscherbelt,“ schreiben die Autoren Christoph Kreutzmüller und Björn Weigel in der Dezemberausgabe des Gemeindeblattes „Jüdisches Berlin“

Zacouto und seine Familie überlebte die Greuel des Dritten Reiches. Die gesamte Biographie dieses ungewöhnlichen Mannes entdeckten Christoph Kreutzmüller und Björn Weigel im Zusammenhang mit der Ausstellung „Verraten und Verkauft“ des Aktiven Museums Berlin. Ihre umfangreichen Recherchen haben Sie nun beim Verlag „Hentrich & Hentrich auf Deutsch und Türkisch veröffentlicht.

Nissim Zacouto

Nissim Zacouto. Jüdischer Wunderknabe und türkischer Teppichgroßhändler, Hentrich & Hentrich 2010, 64 S., per Klick zur deutschen Kurzbeschreibung und zur Bestellung

Nesim Zacouto

Nesim Zacouto: Mucize yahudi çocuğlu türk hali tüccari. per Klick zur türkischen Kurzbeschreibung und zur Bestellung

Die Autoren schreiben: Diese Übersetzung soll gerade in einer Zeit hitziger Integrationsdebatten einen Beitrag zur interkulturellen und interreligiösen Verständigung leisten und vor allem türkischstämmige Jugendliche über die faszinierende Lebensgeschichte Nissim Zacoutos mit zwei bisher noch wenig bekannten Aspekten türkisch-jüdischen Lebens vertraut machen: der Geschichte der sefardischen Gemeinde in Deutschland sowie der systematischen Entrechtung und Verfolgung türkischer Staatsbürger jüdischen Glaubens im Dritten Reich.

Der Tod Klaus-Jürgen Rattays – Fanal im Kampf um die Stadt

Von HU – Gastblogger Moritz Wichmann

Ich war 30, kam vom Lande, es war meine erste Demo – es war eine wahnsinnig aufgeheizte Stimmung“, so eine Zeitzeugin 29 Jahre später. „ An diesem Abend gab es bestimmt einige, die ihren ersten Stein geworfen haben, damals gab es keine Deeskalation, da wurden Passanten verprügelt“, erinnert sich die taz-Journalistin Plutonia Plarre, die ebenfalls dabei war. Am 22. September 1981 erreichte der Kampf um die Stadt in Westberlin seinen traurigen Höhepunkt. Im Zuge eines Polizeieinsatzes starb der Demonstrant und Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay. Was war geschehen?

Zeitungsschnipsel_Rattay

Westberlin 1981

Im Jahre 1981 ist Berlin eine gespalttene Stadt. Auf der einen Seite ein Klüngel aus Immobilienwirtschaft und politischem Estabishment, das großflächig alte Häuser abreißen und neu bauen lassen will, auf der anderen Seite die Instandbesetzer der alternativen Szene, die sich leerstehende Häuser aneignen. Der Senat ist von der Welle an Hausbesetzungen zunächst überrascht und ohne Konzept, schafft es dann im Verlauf des Jahres langsam die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Hans-Jochen Vogel (SPD), von Januar bis Juni 1981 übergangsweise Regierender Bürgermeister von Berlin führt die Berliner Linie ein: Neu besetzte Häuser sollen innerhalb von 24 Stunden geräumt werden, alte werden nicht geräumt, solange die Besitzer keine konkreten Baupläne mit dem Haus haben.

Die Außeinandersetzungen werden härter, auf der Straße geht es zunehmend brutal zu. Im Dezember 1980 werden einem jungen Demonstranten von einem Einsatzwagen der Berliner Polizei die Beine zerquetscht. Im April stellt der linke Ermittlungsausschuss in einer Pressekonferenz die Frage: „“wer eigentlich ermittelt in Berlin gegen diejenigen Polizisten, die im Schutze der Nacht und in Hinterhöfen Leute ohne Rücksicht auf Leben und Gesundheit zusammenschlagen?“. Der Ermittlungsausschuss konstatiert schon damals: „Wir befürchten, daß die Fortsetzung dieser Polizeistrategie demnächst auch zu Todesopfern führen wird“. Einen Monat später liegt ein Mann infolge eines Polizeieinsatzes in aktuer Lebensgefahr auf der Intensivstation. Im Senatswahlkampf setzt sich währenddessen die CDU durch: Ab dem 11. Juni ist der Berliner Senat CDU-geführt. Der neue Innensenator ist Heinrich Lummer, ein deutschkonservatier Hardliner am rechten Rand seiner Partei. Er will in Berlin aufräumen und kündigt die Räumung von neun besetzten Häusern an. Für die Hausbesetzer eine Kampfansage.

Einer von ihnen ist Klaus-Jürgen Rattay. Er ist zuvor mehrere Monate durch Europa getrampt, zuhause in Kleve am Niederrhein hat er es nicht ausgehalten, hat sich mit verschiedenen Jobs als Gelegenheitsarbeiter durchgeschlagen. In Berlin schließt er sich den Hausbesetzern an. Er ist begeistert vom Zusammenhalt in der Szene. Ihm stinke es “wenn man dauernd unterdrückt wird, von anderen Wixern am Arbeitsplatz, vom Meister oder so“, erzählt er in einem Interview noch zwei Tage vor seinem Tod einem Kamerateam rund um den Journalisten Stefan Aust. Auf die Frage nach den bevorstehenden Räumungen sagt er: „Ich hab` Angst und ich hab gleichzeitig auch Mut zu kämpfen“.

Die Räumung von 9 Häusern

Am 22. September ist es schließlich soweit 2000 Polizisten räumen wie angekündigt die Häuser unter Protesten. Nach der Räumung hält Innensenator Lummer in einem besetzten Haus in der Bülowstraße 89 triumphierend eine Pressekonferenz ab. Eine Machtdemonstration. „In einem Aufwasch, ist das am Besten erledigt“ brüstet sich Lummer gegenüber den Journalisten. Vor dem Haus hinter den Absperrungen protestieren Hausbesetzer und Sympatisanten mit Sprechchören. Nach einiger Zeit beginnt eine hinzugezogene Hundertschaft der Polizei unter Schlagstockeinsatz die Bülowstraße in Richtung Potsdamer zu räumen. Die Demonstranten fliehen panisch vor der nachrückenden Polizei in den fließenen Verkehr auf die Potsdamer Straße. An der Kreuzung halten die Autos an, als sie die Demonstranten auf die Straße rennen sehen, ein Bus der BVG fährt nach der Rotphase wieder an und will die Kreuzung überqueren. Ab hier stehen sich zwei Versionen gegenüber.

Der Tod Klaus-Jürgen Rattays

Die erste ist die der Polizei und des Senats: Die Menge habe den Bus mit Steinen angegriffen, worauf der Fahrer versucht habe aus dem Gefahrenbereich herauszukommen. Klaus-Jürgen Rattay sei dabei vor den Bus auf die Stoßstange gesprungen und habe die Frontscheibe des Busses zerschlagen, den Bus also angegriffen. Dabei sei er unter den Bus geraten. Der Bus schleift Klaus-Jürgen Rattay etwa 80 Meter mit, bis er schließlich anhält. Der Busfahrer sagte später aus, er habe nicht gemerkt, dass Rattay unter den Bus geraten sei.

Der Ermittlungsausschuss, aber auch bürgerliche Medien wie der Tagesspiegel, veröffentlichen unter Berufung auf Zeugen eine andere Darstellung der Ereignisse. Rattay sei mit der Menge auf die Kreuzung gerannt, während der Bus wieder anfuhr. Er habe sich dabei in Richtung der, die Demonstranten verfolgenden Polizisten umgedreht, und habe so den anfahrenden Bus nicht gesehen. Andere Augenzeugen berichten, sie hätten sich durch einen Sprung gerade noch vor dem Bus in Sicherheit bringen können und hätten dann wütend mit den Händen an den Bus geschlagen. Der Bus jedenfalls sei unbeschädigt auf die Kreuzung gefahren. Viele Augenzeugen berichteten, bis der Bus Rattay überrollt habe, habe es keine Angriffe auf den Bus gegeben.

Rattay selber sieht laut Rekonstruktion der Zeugen den Bus erst im letzten Augenblick. Er reißt die Arme hoch, vielleicht, um den Busfahrer zu stoppen. „Dann gab es ein dumpfes ‚Plop‘ und Klaus wurde umgerissen“ berichtet ein Zeuge in einer Dokumentation des Ermittlungsausschusses. Rattay sei zunächst durch die Wucht des Aufpralls mit dem Kopf gegen die Frontscheibe geschleudert worden und dann unter den Bus geraten. Diese Version bestätigt auch Wolfgang Meyer-Franck, damals Anwalt der Familie Rattay als die wahrscheinlichste. Meyer-Franck betont: „Der Busfahrer konnte eigentlich nicht sagen „ich hab nichts bemerkt“, er wurde von einem anderen Kollegen angefunkt „du hast jemanden angefahren, halte an!“ – und zwar mehrfach“.

Akte_Rattay

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Direkt nach dem Tod von Rattay besetzen die anwesenden Demonstranten die Straße mit einer Sitzblockade und beginnen eine Trauerkundgebung, die Stelle an der Rattay stirbt wird mit einem Meer von Blumen bedeckt. Die Polizei räumt mehrmals die Mahnwache, tritt die am Boden liegenden Rosen auseinander, wie auf Bildern zu erkennen ist. Spätabends ziehen dann 10.000 Menschen in einer Trauerdemonstration durch Westberlin. Danach entlädt sich die Wut militant. „Nach dem Tod von Rattay gab es viele Demos, da wurden Wannen umgekippt“ erinnert sich Plarre.

Die versuchte juristische Aufarbeitung

Die Staatsanwaltschaft ermittelt in der Folge gegen den Busfahrer wegen fahrlässiger Tötung, der Einsatzleiter wird nur als Zeuge vernommen. Schließlich werden die Ermittlungen eingestellt. Rechtsanwalt Meyer-Franck gelingt mittels eines Verkehrsgutachtens und einem Klageerzwingungsverfahren, dass die Ermittlungen nochmals aufgenommen werden. Im April 1983 werden die Ermittlungen endgültig eingestellt.

Direkt am Tatort habe es keine ausreichende Spurensicherung gegeben, die weisungsgebundene Staatsanwaltschaft habe nur zögerlich ermittelt – sie habe kein besonderes Interesse an der Aufarbeitung des Falls erkennen lassen. Ein weiteres Problem sei überraschenderweise die Vielzahl der Zeugen gwesen. Sechzig Zeugen, zusätzlich das vorhandene Bildmaterial: „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass es soviele unterschiedliche Sichtweisen eines Vorgangs geben kann“ erinnert sich Meyer-Franck.

Im Einstellungsbeschluß heisst es dann schließlich: „…daß Klaus-Jürgen Rattay aufgrund der Räumung der Bülowstraße in den Kreuzungsbereich geraten ist wahrscheinlich, aber wie ausgeführt, nicht nachzuweisen“, dem Busfahrer sei zwar nachzuweisen, dass er die Kollision mit Rattay bemerkt habe, aber nicht, dass dieser unter den Bus geraten sei. Auch sei nicht klar, ob Rattay unmittelbar die Arme hochgerissen habe und gegen den Bus geprallt sei oder selbst handelnd tätig geworden und die Frontscheibe des Busses angegriffen habe.

Im Fall Rattays seien die Möglichkeiten der juristischen Aufarbeitung und Klärung an ihre Grenzen gestoßen. Solche Ereignisse könnten nur politisch aufgearbeit werden, so das Fazit von Meyer-Franck. Eine „harte Erfahrung“ sei das gewesen. Die Frage nach Schuld und die Frage nach der politischen Verantwortung bleibt ungeklärt. Für TAZ-Journalistin Plarre ist die Sache klar: „Letztendlich war natürlich Lummer verantwortlich, ich glaube es war so eine Art vorauseilender Gehorsam der Polizei ihm gegenüber“.

Die Hausbesetzer in der Defensive

Doch was waren die Folgen für die Bewegung? Im Zuge des Sommers 81 wurden bis zu 5000 Verfahren gegen Hausbesetzer und Demonstranten eingeleitet, schätzt der Ermittlunsausschuss in seiner Dokumentation des Falles. Der Druck von außen schweißt die Szene zusammen. „Man empört sich und wird politisiert, auf einmal war man ein Kollektiv in diesen Häusern“ erinnert sich Plarre. Direkt nach dem Tode Rattays habe erstmal „niemand verhandelt“.

Und doch ist mit dem Tode Rattays endgültig klar: „Hier geht es auch um Leben und Tod, das wurde dann allen klar und ich denke auch, dass das die Verhandlungsbereitschaft vieler Häuser erhöht hat“, so Plarre. Die Repression wirkt. Die Szene wird gespalten in friedliche Verhandler und militante Nichtverhandler. „Es gab immer die Forderung: Wir verhandeln, wenn es keine Räumung gibt“ erinnert sich Plarre. Doch der Senat lässt immer wieder räumen und schafft es damit die gegenseitige Solidarität der Hausbesetzer zu unterhöhlen. Die „Verhandeln nur ohne Räumungen“-Position wird in der Folge immer wieder und immer weiter aufgeweicht, immer mehr Häuser scheren aus der Front der Hausbesetzer aus und verhandeln. Die Hausbesetzer sind in der Defensive. Kurze Zeit später schließen 70 von 160 besetzten Häusern einen Vertrag ab, oder kaufen ihr Haus – der Rest wird geräumt.

Repressive Normalisierung

Und so markiert der Tod Klaus-Jürgen Rattays auch eine politische Zeitenwende. „Diese Wohnungs- und Hausbesetzungsproblematik war die wesentliche Herausforderung, als ich damals sehr kurzfristig nach Berlin kam“ erinnert sich Jürgen Vogel. Daran anschließend betont auch Richard von Weizsäcker im Interview mit dem RBB, dass er die Linie von Vogel ganz im Einklang mit diesem fortgesetzt habe.

Parteiübergreifend bestand also Einigkeit, das die Lage in der Stadt normalisiert werden musste, begann die Hausbesetzerbewegung doch, nachdem die eher akademische 68er Bewegung die intellektuelle Vorarbeit geleistet hatte, praktisch das „andere Leben“ in Form der Aneignung von Privateigentum, der kollektiven Lebensweise und der solidarischen Ökonomie zu organisieren. In Ansätzen eine andere Organisation des städtischen Lebens, die nicht kompatibel war mit der bürgerlichen Gesellschaft und deswegen von ihr nicht toleriert werden konnte. Der Tod von Klaus-Jürgen Rattay zeugt davon, das die Strategie der repressiven Normalisierung der Situation in Westberlin letztlich auch Tote in Kauf nahm.

Was ist geblieben? Die Hausbesetzer haben eine Modernisierung der Wohnungsbaupolitik und des städtischen Lebens durchgesetzt. Heute wird saniert statt abgerissen. Wohnformen wie die Wohngemeinschaft sind heute allgemein etabliert, wenn auch oft mehr der Notwendigkeit, als dem Wunsch nach kollektiven Leben geschuldet. Auch heute noch hat Berlin eine große alternative Szene. Und doch: Viele Hausbesetzer sind in den Schoß der bürgerlichen Gesellschaft zurückgekehrt. Vielen der legalisierten Häuser sieht man heute nicht an, dass sie einmal besetzt waren. Nahe der Todesstelle von Klaus-Jürgen Rattay befindet sich heute eine kleinen Gedenktafel, eingelassen in den Gehweg. Darin eingeritzt: Der Name des Toten. An Heinrich Lummer erinnert heute im Abgeordnetenhaus eine Büste, er ist heute nach mehreren Schlaganfällen ans Bett gefesselt. Opfer und Sieger im Kampf um die Stadt.

ausgewählte Quellen:

Ermittlungsausschuss: abgeräumt? 8 Häuser geräumt…. Klaus-Jürgen Rattay ist tot, Eine Dokumentation

RBB Doku: Häuser, Hass und Straßenkampf