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Die Poetische Potse heute

Von HU-Gastbloggerin Nancy

Der Wandel in Berlin ist allgegenwärtig. Auch der Potsekiez hat sich im Laufe seiner Geschichte immer wieder verändert. Neuankömmlinge liessen sich hier nieder und haben durch ihre jeweils eigene Kultur Spuren im Kiez hinterlassen. Besonders in den Gründerzeitjahren bis in die Weimarer Republik hinein war das Gebiet um die Potsdamer Strasse das Mekka für Künstler und Kreative. Inspiriert vom literarischen Streifzug eines HU-Gastbloggers durch die literarische Potse habe ich mich auf den Weg gemacht, um zu erkunden, was aus den kulturellen Schauplätzen der Vergangenheit geworden ist. Weiterlesen

Joseph Roth in Berlin: Modernität aus der Retrospektive

Offensichtlich ziehen sich die Resultate urbanen Wandels durch die Potsdamer Straße: Neue Ausstellungen in der ehemaligen Druckerei des Tagesspiegels, unzählige Casinos, die mit ihrer Werbung die Erdgeschosse prachtvoller Altbauten bedecken und, bei der Kreuzung zur Goebenstraße angekommen, Sozialbauten: parzellierte Hochhäuser, bei denen die dicht aneinander liegenden Balkons abwechselnd von Satellitenschüsseln verdunkelt, von tropischen Gewächsen überwuchert oder in dem kargen Grau des Betons gehalten sind. Die Eindrücke können zweifelsfrei begeistern. Angesichts der zusammenhangslosen Mischung fragt sich der ein oder andere Spaziergänger jedoch auch mal: Wo bin ich hier eigentlich?

Joseph Roth, 1926

Joseph Roth, 1926

Berlin beherbergt zahllose passionierte Flaneure, die sich von dieser Vielfalt nicht beirren lassen. Im letzten Jahrhundert haben einige von ihnen ihre Eindrücke der Stadt für die Nachwelt festgehalten. Heute noch liefern uns die Stadtchroniken von Walter Benjamin oder Franz Hessel eine detaillierte Sicht auf die Entwicklungsgeschichte von Berlin. Einer dieser Flaneure war Joseph Roth. Niemanden hat das zusammengewürfelte Gesicht der Stadt mehr gestört als den Schreiber, der in den Zwanzigern auch die Potsdamer Straße bewohnt hat.

Er liebte die Individualität und hatte einen Hang zum Mystischen, aber wenn die Geschichte und die Herkunft eines Individuums in kunterbuntem Mischmasch untergeht, fand seine Faszination keinen Ansatz mehr. Ob loyale Kriegsveteranen oder Nachfahren eines Adelsgeschlechts, begünstigt durch den Monarchen: Die Protagonisten in Joseph Roths Romanen haben diesen bewussten und meist ehrenhaften Hintergrund. Aber je frommer und gewissenhafter ihre Ursprünge, desto härter prallt ihre indolente Gesinnung auf die Grausamkeit der Gegenwart. Und damit ist keine Zeit gemeint, die ein Historiker versucht nachzusinnen – es ist die Zeit eines Epikers mit starrem Blick auf aktuelles Zeitgeschehen. Der Leser spürt diese zeitliche Spannung und eine sehnsüchtige Nostalgie in dem melodischen Prosa vom „Radetzkymarsch“, „Hiob“ oder dem „Hotel Savoy“. Die Lektüreerfahrung geht über den Schreibstil hinaus und die inhaltlichen Dissonanzen scheinen den pulsierenden Nerv einer Metropole heute noch genauso akkurat zu treffen wie das Berlin in der kulturellen Blüte der Zwanziger.

„Berlin ist ein Labor der Moderne“

JosephRothDiele

Joseph-Roth-Diele, Potsdamer Straße 75

Wenig scheint sich an dieser Feststellung geändert zu haben. „Die Spannung bei Roth gibt’s natürlich heute noch“ erklärt ein Kellner aus der Joseph-Roth-Diele, die vor zwölf Jahren im Nachbarhaus von Roths Unterkunft gegründet wurde. „Heute ist es eben mehr ein gesellschaftlicher Konflikt.“ Dabei deutet er auf die Prostituierten, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite dem Verkehr auf der Potsdamer Straße zuwinken. Es sind Eindrücke von einer sozialen Baustelle, von einem Schauplatz neuer Konflikte und kultureller Kollisionen – das im Licht der Kerzen und Kronleuchter schillernde Restaurant, tapeziert mit Büchern und Zitaten, bleibt ein vereinzeltes Kleinod im Geiste Roths Lieblings-Gaststätte, „Mampes gute Stube“.

Was heute eine Vielzahl unterschiedlicher Ursprünge und Kulturen ausmacht, war zu Zeiten Roths eine Spannung zwischen Kriegsflüchtigen aus allen Teilen Europas, Rückkehrende aus russischer Gefangenschaft und einem sich anbahnenden Nationalsozialismus. Aber Roth hat nie Kritik an kultureller Vielfalt geübt. Sein Blick hat die Probleme vielleicht deutlicher gesehen als wir heute dazu in der Lage sind:

„Die Fassade der neuen Zeit macht mich unsicher“

Mit dieser Anmerkung versehen veröffentlicht Roth einen Artikel über Architektur in der Münchner illustrierten Presse, 1929. Durchgehend aus der Ich-Perspektive berichtet Roth emotional aufgeladen von seiner Abneigung gegen den Eklektizismus der Moderne: Ein Kabarett, das man auch für ein Krematorium halten könnte, ein Kino, das in der Hast einer bevorstehenden Reise mit einem Bahnhof verwechselt wird. Wir können heute an seinen Erfahrungen aus der Metropole anknüpfen, die sich nicht darum bemüht einen kohärenten Stil zu bewahren: „Man kannte genau die Gesetze der Verlogenheit und agnoszierte unfehlbar den Ersatz, wo man das Echte erblickte.“

Neben den stilistischen Divergenzen nährt sich Roths Abneigung gegen Berlin auch am zwischenmenschlichen Umgang. In dem Artikel, „Bei den Heimatlosen“, den er 1920 für die die Neue Berliner Zeitung geschrieben hat, behandelt Roth die Menschlichkeit oder eher die Unmenschlichkeit, mit der Emigranten und Asylbewerber in Berlin konfrontiert werden. Grammatikalisch verschrobene Reverse, unumgängliche Bürokraten und modrige Behausungen – Hindernisse, die heute noch den Einwanderern ihr Asyl nicht gerade einladend gestalten. Die Zeit liest aus der Artikelsammlung von „Joseph Roth in Berlin“  konsequenterweise heraus, dass er „für die falschen Sorgen der Gutbetuchten (…) nur Verachtung übrig“ hat. 

Ein Bekenntnis zum Gleisdreieck

Berlin ist zusammengewürfelt. Das ist keine Kritik an der Internationalität oder der Vielseitigkeit der Stadt. Es ist eine Tatsache – nur der Umgang damit scheint Roth unbeholfen. Menschliche Kooperation, einen genauen Blick auf das Umfeld und eine sinngemäße Weiterentwicklung des Bestehenden proklamiert er für die Rettung von Berlin. In seinem Artikel über das Gleisdreieck singt er deshalb eine Hymne auf die Technisierung: 

Gleisdreieck 1912

Gleisdreieck um 1912, Berlin

„Man müsste sich mit Inbrunst zu ihrer Grausamkeit bekennen, in ihren tödlichen Wirkungen die Ananke sehen und viel lieber nach ihren Gesetzen untergehen sollen als nach den Humanen der sentimentalen Welt glücklich werden.“

Heute verziert eine Parkanlage die glänzenden, eisernen Adern der Stadt und wir müssen uns erneut fragen: Ist das genuine Charisma einer Stadt im Gestaltungs- und Projektwahn verloren gegangen? Und noch entscheidender: Ist die Eigenheit in der Architektur, in der Kunst und der technischen Entwicklung von Berlin sogar eine Voraussetzung für die Offenheit gegenüber anderen Kulturen und den wachsenden Menschenmassen? – Joseph Roths Beschreibung seiner Gegenwart beantwortet es unverkennbar: Ja!

Ein Gedanke, den Joseph Roth vor 90 Jahren in der Frankfurter Zeitung in seinem poetischen Stil der Berichterstattung manifestiert hat, lässt uns heute erneut die Ideale und Trends unserer Zeit überdenken. Spannung, Pessimismus, Eigenheit – sie haben ein exaktes Gesicht der Zeit gezeichnet und eine Kritik formuliert, die nicht an Aktualität verloren hat.

Der Artikel ist entstanden im Rahmen des Kurses “Online Journalismus – Recherchieren und Bloggen” des Career Centers der Humboldt Universität

von HU-Gastblogger Vincent

Joseph-Roth-Diele in der Potsdamer Str. 75

Die einladende Gast-und Lesestube an der Potse hält alles was sie verspricht- und mehr.

Von HU-Gastblogger Jan Radoch

Täglich von 10- 24 Uhr gibt es wechselnde Tagesgerichte für einen schmalen Taler (ca. 4-7€ für hochwertige Hausmannskost) und die Dauerbrenner wie z.B. Wienerschnitzel oder Käsespätzle sind immer erhältlich. Alle Speisen sind liebevoll angerichtet und schmecken hervorragend.

Typisch Berlin – denkt man, nachdem man die Joseph-Roth-Diele zur Hauptbetriebszeit verlässt. Hier treffen besonders zur Mittagszeit zwei Welten aufeinander. Das alte, charmante Berlin der 20er Jahre und das rasante Mittagsgeschäfte der medialen Neuzeit. Das alte Tagesspiegel-Gebäude ist nur einen Steinwurf entfernt und somit ist die Diele auch heute noch von vielen Media- Unternehmen umzingelt. Die hippen Mitarbeiter kehren hier, gerne für eine Mahlzeit und eine naturtrübe Apfelschorle oder ein Glas Wein, ein.

Zu den Hauptzeiten herrscht konstante Bewegung in der Diele – ein ständiges kommen und gehen – gegessen wird hier eher zur schnellen und guten Nahrungsaufnahme und nicht nur zum reinen Genuss. Auf einen Platz zu warten, gehört hier genauso dazu wie das bezahlen an der Theke. Eine Speisekarte erhält man meistens nur auf Nachfrage, denn die Speisen des Tages stehen auf einem großen Schild vor der Tür- man ist hier eben praktisch veranlagt. Durch die übersichtliche Speisekarte mit 4-5 täglich wechselnden Tagesgerichten fällt die Auswahl leicht und man muss selten länger als 5 Minuten auf sein essen warten.

 

 

 

 

 

 

Das besondere an der Roth-Diele ist aber nicht nur die hohe Qualität des Essens, sonder das Ambiente. Die Wände, Theken und Einrichtung sind mit einem dunklen Holz versehen. Die vielen Bilder an den Wänden gemeinsam mit Zitaten und den gesammelten Werke von Joseph-Roth, die man hier auch käuflich erwerben kann, sorgen für das einzigartige an diesem Gasthaus. Ein echter Geheim-Tipp.

Der Namensgeber Joseph Roth war im übrigen Schriftsteller und Journalist und lebte von 1894- 1939. Er soll mal in dem Haus nebenan gewohnt haben- wird gemunkelt. Er schrieb für verschiedene Berliner Zeitungen wie z.B. für den Berliner Kurier. Wenn Sie mehr über Joseph Roth erfahren wollen -> hier geht´s zum Wikipediaeintrag

Die Internetpräsenz der Joseph-Roth-Diele finden sie hier.

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Poetische Potse – Teil 3 – literarischer Streifzug durch drei Jahrhunderte

Von Gastblogger Alexander Skrzipczyk
er studiert Germanistik und Philosophie an der TU
Fortsetzung vom 24. September 2011

Lützowufer

Unser Weg kanalisiert sich dem Lützowufer entgegen, immer gedankenversunken heimgesucht von Lesser Urys ausufernden Stadtverschwimmungen, zu denen sich Walter Benjamin auditiv ins Bild rückt, wie er gerade das erste Telephon bestaunt oder – sich ihnen arnohaft angleichend – Schmetterlinge beobachtet und einzufangen trachtet.

Eine Gruppe lärmender Schulkinder rennt mit ihren Ranzen an uns vorüber, mich am Ellenbogen streifend. Um diese Tageszeit? Doch eine alte Frau mit wachen Augen, die Pfeife rauchend am Kanal spaziert, wendet sich uns zu und hebt an, dass sie Marie Luise Kaschnitz sei, und dies die Straße ihrer Kindheit. Vor ungefähr einhundert Jahren habe tagtäglich ihr Schulweg hier begonnen: ein einziges „Rennen und Trödeln“:

Lützowufer

„Früh am Morgen, vor der Schule, stellen die Kinder einen Schnürstiefelfuß auf die Stufe des Erkers, schnüren und reißen die brüchigen Senkel ab, knoten und schnüren wieder, starren in das daneben aufgeschlagene Schulbuch, trinken angewidert ihren Eichelkaffee.[..] Die Von der Heydt-Straße, in der die Kinder zu Hause sind, ist langweilig, mit schmalen Vorgärten und überhaupt keinen Geschäften“. Daran hat sich auch heute nichts geändert, die Gegend hat sich ihrer Heimeligkeit vollends entäußert, ist zum reinen Transit-Ort, eigentlich zu einem Nicht-Ort geworden. „Ob auf der Herkulesbrücke wirklich ein bronzener Herkules gestanden hat, werden sich die Kinder viele Jahrzehnte später, wenn die ganze Gegend Ödland ist, nicht mehr erinnern [..] Auf der Brücke muß man stehen bleiben und nach einer Leiche Ausschau halten, es schwamm eine Leiche im Landwehrkanal, Landwehrkanal, das Lied wird zu Hause im Chor gesungen und die Mutter hält sich die Ohren zu. Der Schulweg besteht aus Rennen und Trödeln, der hübsche, mit Bäumen und Büschen bestandene Lützowplatz wird im Laufschritt überquert.“ Der Schulweg lässt die Primaner an gruseligen Sarggeschäften und dem KaDeWe vorbei mit „klappernden Federkästen“ schließlich in die Passauer Straße einbiegen, wo sie spreizbeinig zur Eingangspforte hasten – das Rennen ist in der Nähe des Schulhauses nicht gestattet. „In der Türe steht die Direktorin und mustert finster die Nachzügler, sie ist überaus gescheit und leidet an einem schlimmen Nervenzucken, das bei ihrem Anblick auch die Kinder überfällt. [..] Erst wenn sie, getrennt nun, in ihre Klassenzimmer treten, werden sie ruhig und setzten sich, furchtbar gähnend, jedes auf seinen Platz.“

Es ist nun schon einige Zeit gestundet seit unserer Abreise, und so lassen wir die Dame ihres Weges ziehen, und beschließen uns etwas zu stärken, erblicken ein ruhiges Plätzchen an der brausigen Potsdamer Straße, mit roter Marquise überdacht und einigen Tischlein darunter. Mit Korkenknall senden wir dem gegenüberigen Wintergarten-Varieté einen ihm geziemenden Gruß und gießen erfrischenden Perlwein in die mitgeführten Dekadenz-Sektengläser. Gerade als wir anstoßen wollen, kommt ein Mann um die 50 mit aufgeschwemmtem Gesicht aus der Tür und hält delirös lächelnd, einen Mundwinkel nach oben ziehend, sein Glas hinzu. Natürlich, das musste er sein: Joseph Roth. Schließlich wohnt er hier in der Potsdamer Straße 73 einige Zeit in den 1920er-Jahren, denkt an die Zeit des ersten Weltkrieges und die anschließende Gefangenschaft zurück und verarbeitet das Ganze zu seinem Kurz-Roman „Hotel Savoy“. Und dem Alkohol huldigt er auch regelmäßig, unser Gegenüber. Unter eine Zeichnung von 1938 in Paris, die ihn über Absinth-Gläsern zeigt, schreibt er nüchtern: „Das bin ich wirklich; böse, besoffen, aber gescheit.“ Ein Jahr später erliegt er in Paris seiner Körperverwahrlosung und den psychischen Strapazen der Emigration. „Prost!“ stoßen wir an, heften einen Mann mittleren Alters als Miniaturbild an die Pforte, über der schon ein Jugend- und ein Altersbild prangen, und lauschen dem träumenden Herren, Gabriel Dan, der als Protagonist und Bewohner eines billigen Zimmers im „Hotel Savoy“ dort – wenn er nur wollte – „mit einem Hemd anlangen und es verlassen konnte als der Gebieter über zwanzig Koffer“: „Ich lebe in einer weißen Welt aus Himmel und Schnee, Baracken bedecken die Erde wie ein gelber Aussatz. Ich schmecke den letzten Zug aus einem aufgeklaubten Zigarettenstummel, lese die Inseratenseite einer heimatlichen, uralten Zeitung, aus der man vertraute Straßennamen wiederholen kann, den Gemischtwarenhändler erkennt, einen Portier, eine Agnes, mit der man geschlafen hat. Ich höre den wonnigen Regen in durchwachter Nacht, die hurtig schmelzenden Eiszapfen in lächelnder Morgensonne, ich greife die mächtigen Brüste einer Frau, die man unterwegs getroffen, ins Moos gelegt hat, die weiße Pracht ihrer Schenkel. Ich schlafe den betäubenden Schlaf auf dem Heuboden, in der Scheune. Ich schreite über zerfurchte Äcker und lausche dem dünnen Sang einer Balalaika.“

Die Gläser sind leer, der Mann wischt sich mit einem karierten Tuch die Stirn, schließt das Buch und steckt es in das Futteral seines Jacketts. Wie er so gelesen hatte, waren seine Augen ganz blinkerig geworden und ein Pfundsgeist war aus der Ruine hervorgekrochen, und selbst der ältliche Torso hatte sich wachsend gebäumt. Als wir ihm das sagen, lacht er bequem und zitiert sich selbst, schon etwas weise, ja alt und klug wirkend: „So vieles kann man in sich saugen und dennoch unverändert an Körper, Gang und Gehaben bleiben. Aus Millionen Gefäßen schlürfen, niemals satt sein, wie ein Regenbogen in allen Farben schillern, dennoch immer ein Regenbogen sein, von der gleichen Farbenskala.“

Fortsetzung folgt