Von Gastblogger Alexander Skrzipczyk
er studiert Germanistik und Philosophie an der TU
Fortsetzung vom 1. Oktober 2011
In allen Farben schillern wir die belebte Potsdamer Straße in südliche Gefilde hinunter, zwar nicht bis Sanary-sur-Mer in Südfrankreich, aber doch bis zur Ecke Kurfürstenstraße. Nicht nur Joseph Roth, sondern auch unser zeitversetzter Audio-Guide Walter Benjamin emigriert zu düster weltkriegerischer Zeit nach Frankreich, nachdem er seine Kindheit in Berlin-Tiergarten verbringt. Am Magdeburger Platz wird er in die Welt geworfen und zieht nach einem Jahr – bis etwa zu seinem siebten Lebensjahr – in die Kurfürstenstraße 154. Angekommen am Hort seiner kostbaren Kindheit benötigen wir ja die Kopfhörer nicht mehr, setzen sie ab, und fast ist es so, als hörten wir weiter eine Stimme zu uns über erste erotische Erfahrungen oder das unvergleichliche Flair der umliegenden Treppenhäuser sprechen. Schweift der Blick nach rechterhand sieht man sie wieder stehen; hochbehackte Frauen osteuropäischer Herkunft. Auch der mittlerweile in die Adoleszenz gekommene Benjamin kann, libidinös erweckt, der geschlechtlichen Versuchung nicht widerstehen: „Stunden konnte es dauern, bis es dahin kam, auf offener Straße eine Hure anzusprechen. Das Grauen, das ich dabei fühlte, war das gleiche, mit dem mich ein Automat erfüllt hätte, den in Betrieb zu setzen, es an einer Frage genug gewesen wäre. Und so warf ich denn meine Stimme durch den Schlitz. Dann sauste das Blut in meinen Ohren und ich war nicht fähig, die Worte, die da vor mir aus dem stark geschminkten Munde fielen, aufzulesen. Ich lief davon, um in der gleichen Nacht – wie häufig noch –
den tollkühnen Versuch zu wiederholen. Wenn ich dann, manchesmal schon gegen Morgen, in einer Toreinfahrt innehielt, hatte ich mich in die asphaltenen Bänder der Straße hoffnungslos verstrickt, und die saubersten Hände waren es nicht, die mich freimachten.“
Noch kurz heften wir den Hausgeistigen ans Klingelbrett – wäre es nicht reizvoll in einer Welt ohne Argwohn das Anheften eines Familienbildes an den Klingelschildern zur Regel werden zu lassen? Wie unendlich spannungsvoll, persönlich, und über-raschungsfreudig wäre dies wohl? Natürlich ist die Welt, wie sie ist, aber solange man noch träumen darf, ist auch nichts verloren.
Die Spannung von Faktizität und Utopie ist auch der inhaltliche Dreh- und Angelpunkt der Poesie Nelly Sachs’: Nun endet also unser Labyrinthengang mit einer Nobelpreisträgerin, der sich eigens ein nach ihr benannter Park gewidmet hat, den man fußläufig von Walter Benjamin straßenabwärts rechts liegen findet. Abendsonne, Wasserreflexionen, Vogelgeschrei vom Zoo herüber, Lärm aus den unter der U1-Trasse befindlichen „Akademischen Bierhallen“, wo vor hundert Jahren der Berliner Bär steppte, und die sich nunmehr in ein tristes Wohnhaus verformt haben. Und dieses Etablissement am Ende der Straße des Benjamin, dem die Universität die Habilitation nicht anerkennen wollte, denken wir. Dies ist wohl der Preis dafür, dass sie ihn einhundert Jahre später mit Vorliebe zitiert.
Nelly Sachs – eine Dame mit schwarzer Haube und schönen Augen – können wir im Parke allerdings nirgendwo erspähen. Lediglich einen Stein mit ihrer Namensgravur sitzt gemütlich auf der Wiese. Ein Mann hastet an uns vorüber zur nahegelegenen Bahnstation hin, erblickt unsere suchenden Köpfe und ruft uns, rückwärts vorwärts laufend, zu: „Wenn sie Nelly Sachs suchen – die ist in Schweden. Ich fahre sie heute besuchen…“ Schöne Grüße! – irgendwie kommt uns der Mann bekannt vor; seine hohe, eindringliche Stimme und sein stechschwarzes Augenpaar erinnern an Paul Celan.
Mit buchstäblich einem der letzten Flüge entgeht Nelly dem sicheren Fall ins Grab, als sie mit ihrer Mutter 1940 nach Stockholm flieht, und dem bereits ausgestellten Deportations-Befehl nicht Folge leistet. Nationalschriftstellerin Selma Lagerlöf hatte es der fünfzehnjährigen Nelly angetan, ein jahrelanger Briefwechsel und eine zentrale geographische Veränderung der Lebenslinie nehmen ihren Lauf. Ihren unbekannten Geliebten muss sie in Deutschland zurücklassen und ihn dem Sterben im Konzentrationslager überantworten. Es ist bezeichnend für den Charakter Nelly Sachs, dass die akribisch detektive Forschung es nicht vermocht hat, den Namen ihres „toten Bräutigams“, aus dessen Tod ihre „ganze Dichtung erwachsen ist“, zu ermitteln, denn das mystische Nicht-Sagen, Aussparen und Verschweigen gehört ganz fest zu ihrem Wer, welches hier an die Negative Theologie gemahnt. „Aus dem Schweigen“ erstehe die Kraft, die der Schöpfung und sämtlichen Lebenslinien ihren Lauf gibt. „Im Park Spazierengehen – /die Eingeweihten/ nur vom Stimmband des Blitzes aufgeklärt/ an den Kreuzwegen das unbeschriebene Pergament/ der Schöpfung einatmend/ wo Gott wie ein fremder Saft im Blute/ seine Herrlichkeit anzeigt.“
Auch diesen Gott durften wir heute schließlich noch kennenlernen, umrankt von letzten Abendstrahlen, die perlweinerne Flasche grundlos immer von neuem mit rauschhafter Poesie leerend. Flankiert von allen Köpfen, Lasker-Schüler, Wedekind, Arno und Joseph Roth, die heute über unseren Weg rollten, setzen wir uns freigeistig in Richtung Nelly Sachs’ Geburtshaus in der Maaßenstraße in Bewegung, und fast ist es so, als hörte man sie allesamt Wörter biegen, als hörte man zwanzig Radiosendungen gleichzeitig. Mal spielt sich die eine Stimme in den Vordergrund, bald eine andere, teils singen sie Duett. Am Nollendorfplatz sehen wir wieder die Kinder mit den Schulmappen rennen „Hier ist aus einem Kellerlokal einmal ein Betrunkener auf die Kinder zugetorkelt und hat sie gestreichelt und dann plötzlich geschlagen, ein weinig weiter, auf dem Platz schon, ist gerade neben ihnen eine Frau zusammengebrochen, eigentlich in sich zusammengesunken, kreideweiß, knochenlos und die rasch herbeigeeilten Erwachsenen haben die Köpfe geschüttelt, haben Hunger, nichts als Hunger gemurmelt und nach der Polizei gerufen.“
Wir können die Kinder nicht mehr weit verfolgen, denn „hier biegen sie schon in die Kleiststraße und rennen wieder, aber mit aufmerksam nach links gewendeten Köpfen, um den Augenblick nicht zu verpassen, in dem die rote U-Bahn aus der Tiefe auftaucht oder sich vom hohen Damm in die Tiefe hinabstürtzt, der Station Wittenbergplatz zu.“ Die in sich zusammensinkende Frau und die zahllosen sich vor dem Bahnhofsgebäude verlebenden Obdachlosen haben den eben noch in seiner vollen luziden Größe vor unserem inneren Auge oszillierenden mystischen Gott binnen Sekunden aus unserem Bewusstsein gedrängt, und eine andere Stimmkurve schallt mehr und mehr angesichts des grauen omnipräsenten Unglücks durch unsere angefüllten Köpfe – die Georg Heyms, die den Tauben Gehör und den Stummen Rede schenken möchte. Ganz einhellig stimmen wir zu und ein, in das Stimmengeflecht, das sich wie von fern gesteuert auf unsere Stimmbänder überträgt, und wir unwillkürlich zu Mitpoeten werden, die Ganzheit unseres momentanen und geistigen Gesichtsfeldes zu Worten gerinnen lassend, klagt auch der andere Gott, oder seine tiefschwarze Seite ihr Recht ein: „dort flattern und schwingen sie/ mit müdem und doch so nervösem/ flügelschlag und warten dass ihnen/ die zwölfteste stunde schlägt –/ die tauben vom nollendorfplatz/ laut dröhnend lachend sitzt er/ hoch oben auf seinem thronigen/ turm umrauscht von schwarzen/ günstlingen krähend verkünden/ sie sein credo – gott der stadt/ taubstumm unterwerfen sich alle/ tauben seinem richtspruch, sie die/ immer untergeben sind stimmlos/ vergebens hausen sie unter eisernen/ unterführungen und ducken/ geworfenheitig unter gottes/ führung ihr haupt/“
Die Wellen der Stimmenflut interferieren, das Knäuel umspannt uns in Lebenslinien und Stimmfetzen wie einen Kokon, auf der obersten Schallwelle wellenritten wir noch bis ganz in den Moment selbststimmig mit, die Stimmenflut zieht wie ein Gewitter weiter ins Nirgendwo, verhallenderweise setzt sie sich wie ein Tee-Satz in unsere sandbänkenen Köpfe ab und wir, – wir kehren unterdes gedankenversunken Heym.
unter Verwendung von „Literarisches Berlin“ Michael Bienert, Verlag Jena1800.
Ende