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Gehörlos – eigene Welt oder Gemeinschaft?

Von HU Gastbloggerin Natalii Iwaniec

Es ist Samstag, der 25. September 2010 – 10 Uhr… ich stehe am Potsdamer Platz an der Kreuzung Potsdamer Straße / Ebertstraße. Heute findet hier die Türkisparade statt – „eine Parade mit Demonstrations-Charakter, die sich bestimmten Zielen [gehörloser Menschen] widmet“. Viele Menschen sind anwesend – hörende aber vor allem gehörlose Menschen. Viele von ihnen in Türkis gekleidet. Türkis – da diese Farbe für die Gehörlosengemeinschaft steht – wie der Name „Türkisparade“ auch schon verlauten lässt.

Mit viel Radau und feierlicher Laune startet die Parade am Potsdamer Platz und verläuft bis zum Neptunbrunnen in der Spandauer Straße. Als ich bei der Parade mitlaufe, stelle ich mir eine Frage, die ich mir schon oft gestellt habe – Wie ist es für gehörlose Eltern, wenn sie hörende Kinder bekommen oder andersrum?

Vielleicht finde ich bei der Parade Antworten auf diese Frage. Ich kann hier mit Eltern ins Gespräch kommen.

Gehörlose Menschen werden heutzutage immer noch komisch auf der Straße angeschaut. Einige hörende Menschen machen sich lustig über die gehörlosen Menschen und die Gebärdensprache. Leider vergessen sie oft bzw. wissen es nicht, dass gehörlose Menschen gut von den Lippen ablesen können und somit mehr verstehen als einige denken.

Genau diese Situation erzählt Kirsten. Sie steht am U-Bhf Friedrichstraße vor dem Werbevideo für die Deaf Week. Hier beobachtet sie, wie „2 Erwachsene [so tun], als ob sie auch gebärden würden, machen es aber eigentlich wie die Affen.“ Sie guckt sich das eine Weile an, aber als sie mitbekommt, wie der Mann der Frau gegenüber Gehörlose als “Affen” bezeichnet, wird es ihr zu bunt.

Sie fragt direkt, wie er wohl kommunizieren würde, wenn er seine eigene Stimme nicht hören könnte? Die zwei gucken erstmal verdattert und verstehen dann, dass Kirsten offensichtlich selber hörbehindert ist. Schließlich fragen sie, wie sie alles mitbekommen hätte und somit klärt Kirsten sie auf, dass sie besser nichts Gemeines in Gegenwart von einem Gehörlosen/Schwerhörigen sagen sollten, da sie gut von den Lippen ablesen könnten. „So schnell habe ich noch nie zwei Leute sich verdrücken gesehen“, sagt Kirsten.

Als Hörende können wir es oft nicht verstehen, dass gehörlose Menschen sich in ihrer Welt als Gehörlose wohl fühlen. Wir können nicht nachvollziehen ganz ohne Geräusche aufzuwachsen und zu leben. Für die Gehörlosen ist dies ganz normal – sie können sich nicht vorstellen in solch einer „lauten Welt“ wie der unsrigen leben. Hier treffen zwei verschiedene Welten aufeinander. Diese Weltentrennung trifft auch bei Eltern auf manche Schwierigkeiten.

Gehörlose Eltern haben zum Teil Angst ihr hörendes Kind „an die andere Welt“ – die Welt der Hörenden zu verlieren. Bei Geburtstagen sitzen oft die hörenden Kinder alle zusammen und unterhalten sich. Die Eltern können in diesem Fall nicht mitreden und verstehen auch nicht worüber sich die Kinder unterhalten. Genauso ist es bei hörenden Eltern, die gehörlose Kinder haben. Gehörlose Kinder entwickeln ihre eigene Sprache untereinander, sodass die Eltern teilweise kaum was verstehen, obwohl sie die Gebärdensprache verstehen und anwenden können. Dies lässt sich durchaus mit dem „Slang“ der heutigen Jugend vergleichen.

Jedoch sind das nicht die einzigen Schwierigkeiten mit denen Eltern zu kämpfen haben. Die größte Schwierigkeit war die Akzeptanz der Gebärdensprache als eigenständige Sprache. Diese Hürde wurde 2002 genommen. Nun wird versucht die Gebärdensprache „populärer“ zu machen. In Amerika, zum Beispiel, ist die Gebärdensprache weit verbreitet und Grundzüge werden schon während der Schulzeit gelehrt – sowohl für Hörende als auch für Gehörlose.

Die Potsdamer Straße in Flickerbildern

Von HU-Gastbloggerin Ilona Scholl

Montagnachmittag der 13. September 2010.

Die Sonne kämpft sich noch hie und da durch graublauschwarze Wolkenfronten. Straßen und Plätze überzieht ein hartnäckig-feuchter Film, der Herbst markiert sein Revier.
Wir entbergen die Potse in Hinterhöfen, der Stadtverkehr lässt es nicht anders zu.
Zum urbanen Grundrauschen aus Motorengeräuschen, Polizeisirenen, Getrippel und Geplapper, addieren wir Geschichten aus der Potsdamer Straße.

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Reichpietschufer (Foto Scholl)

Wir machen fleißig Probebohrungen, extrahieren Spekulationsobjekte, Kunst- und Kitschräume, Banken, Casinos, Museen, Liebe, Sex, Alp- und Wunschträume.

Unser Untersuchungsgegenstand wehrt sich erfolgreich gegen rigide Kategorisierungsbestrebungen und mag nicht so recht in eine gemütliche Schublade passen.
Wir lassen ihm seinen Willen und attestieren ihm Diversität.
Wir tasten uns an seinen alten und neuen Wänden entlang, für manche bezahlen ehemalige Hausbesetzer inzwischen brav Miete, andere schützen Leere vor Wertverfall und sagen ”Ihr müsst draußen bleiben, ihr verwohnt uns hier noch alles!” Wieder andere sind nicht mehr da. Wir imaginieren sie kurz ins Jetzt und gehen dann an ihnen vorüber.

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Fensterwüste (Foto Scholl)

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Nationalgalerie (Foto Scholl)

An der Nordseite der Neuen Nationalgalerie setzen wir uns. Den Potsdamer Platz im Rücken, bilden wir eine Reihe ( der Gedanke an die Hühner auf der Stange drängt sich dem geneigten Betrachter unwillkürlich auf ). Einer steht unbeeindruckt exponiert und spricht von Thomas Mann, dem’s hier schnell zu wuselig wurde. Dann hören wir etwas über Taube, die auf sich selbst nicht als ‘taubstumm’ oder ‘gehörlos’ referieren, und ich merke, wie ich mich leicht nach vorn beuge, weil etwas in diesem Vortag mein Interesse weckt. ”Commitment”, denke ich, weil mir das deutsche Wort nicht sofort einfällt und in just in diesem Moment, hat sich die Exkursion für mich personalisiert. Meine erste Assoziation zu diesem Ort wird künftig die junge Frau sein, die mit großer Geste auf die großen Gesten verweist, derer man nächste Woche in der Potsdamer Str. ansichtig werden wird, wenn hier anlässlich der ‘Deaf Week’ eine Demonstration stattfindet.

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potseherbst (Foto Scholl)

Später ein pittoresker Park, menschenverlassen ist er und mit akkurat getrimmtem Gras; es bilden sich Zweier- und Dreiergrüppchen. Von Migration ist die Rede, von Studentenwohnheimen und von Lofts für Reiche, die noch nicht so richtig kommen wollen, aber es wird ja stadtentwickelt. Verweis auf Hotels, Kindergärten, Schulen, Ateliers, irgendwo dazwischen Pause in der Kaffee-Garage des Freien Museums. Einem großen Heizkörper wurden Bücher zwischen die Rippen gesteckt. Heizregal.

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Heizregal (Foto Scholl)

Weiter im Projekt.
Westwärts: Rossmann, Asia Box, Ein Euro Shop, Nagelstudio, ein Juwelier – Harem steht auf dem Schild – Burger King, LSD. Informationen über Gentrifizierung und Prostitution.

An der Bülowstraße steige ich in die Bahn. Reizüberflutet.
Am Donnerstag kommen wir zurück – es ist noch reichlich Potse übrig.

Türkisparade

Von Gastbloggerin Antonia Losch

Seid ihr in den letzten Tagen mal mit der U-Bahn gefahren? Im Berliner Fenster entdeckte ich einen Beitrag in Gebärdensprache. Diese Woche steht ganz unter dem Stern der Gehörlosen oder Tauben – wie sie sich selbst nennen. Es ist nämlich „Deaf Week“. Seit dem 17.09.10 finden zahlreiche Veranstaltungen von und für Taube in Berlin statt. Unter Deaf Week findet ihr das gesamte Programm. Darunter zum Beispiel das jährliche Gehörlosenstraßenfest am letzten Samstag oder auch der Tag der offenen Tür bei zahlreichen Vereinen wie zum Beispiel Unerhört e.V. und Sinneswandel.

Höhepunkt der Woche wird sicherlich die Türkisparade sein. Erstmalig findet eine Parade FÜR Gebärdensprache und FÜR Gehörlosenkultur in Berlin statt. Auf der Homepage findet man neben Texten auch Videos in verschiedenen Gebärdensprachen, denn hingegen aller Vermutung ist die Gebärdensprache keine Internationale Sprache. Es gibt deutsche Gebärdensprache (DGS), Österreichische Gebärdensprache (ÖGS), Italienische Gebärdensprache (ILS), amerikanische Gebärdensprache (ASL), und so weiter.

Die Türkisparade startet am 25. September 2010 um 10 Uhr am Potsdamer Platz. Dieser Internationale Tag der Gehörlosen wurde r 1951 vom World Federation of the Deaf (WFD) initiiert . Nach einer Auftaktveranstaltung zieht die Parade über folgende Route : die Leipziger Straße entlang, links die Friedrichstraße hoch und Unter den Linden entlang bis zum Alexanderplatz, wo sie mit einer Abschlußkundgebung endet.

Doch warum überhaupt und was hat es mit der Farbe Türkis auf sich? Als Pendant zur roten Aidsschleife wurde vor Jahren eine blaue Schleife vorgeschlagen für die Gehörlosengemeinschaft. Diese hat sich leider nicht durchgesetzt. Vor 6-8 Jahren etwa hat der Österreichische Gehörlosenbund eine Schleife in Türkis eingeführt, die mittlerweile auch in Deutschland Gefallen findet. Die Schleife steht als Symbol für die Gehörlosengemeinschaft/Taubengemeinschaft – und für Gebärdensprache.

Als Vorbilder für die Parade hat sich das Organisationsteam den Christopher-Street-Day genommen. Die Türkisparade steht FÜR die Taubenkultur und für Gebärdensprache. Sie steht FÜR Vielfalt und Offenheit. Sie steht auch FÜR Toleranz, denn noch heute erfahren taube Menschen noch immer Diskriminierung. So sind z.B. die Möglichkeiten für Gehörlose, deren Muttersprache eine Gebärdensprache ist, absolut unzulänglich.