Schlagwort-Archiv: Walter Benjamin

Die Poetische Potse heute

Von HU-Gastbloggerin Nancy

Der Wandel in Berlin ist allgegenwärtig. Auch der Potsekiez hat sich im Laufe seiner Geschichte immer wieder verändert. Neuankömmlinge liessen sich hier nieder und haben durch ihre jeweils eigene Kultur Spuren im Kiez hinterlassen. Besonders in den Gründerzeitjahren bis in die Weimarer Republik hinein war das Gebiet um die Potsdamer Strasse das Mekka für Künstler und Kreative. Inspiriert vom literarischen Streifzug eines HU-Gastbloggers durch die literarische Potse habe ich mich auf den Weg gemacht, um zu erkunden, was aus den kulturellen Schauplätzen der Vergangenheit geworden ist. Weiterlesen

Nischensuche

von HU-Gastbloggerin Jennifer Borth

Bereits Franz Hessel und Walter Benjamin schufen Bilder der Genthiner Straße und Umgebung, den Orten ihrer Kindheit um neunzehnhundert. In den Bildern reihen sich Lebensgeschichten der Läden, Gasthäuser, Hauswände und Passanten aneinander. Eine besonders lebendige Szenerie findet sich in Benjamins Erinnerung an die damalige Markthalle auf dem Magdeburger Platz. Aus Erzählungen dieser Art entsteht der „Rhythmus“ einer Gegend – ein Rhythmus und eine Lebendigkeit, die der Genthiner Straße heute fehlen.

Wie gestaltet sich die kulturelle und architektonische Tristesse der unscheinbaren Straße im Süden Tiergartens? Existieren Nischen der Ästhetik und des sozialen Lebens? Biegt man von dem begrünten Ufer des Landwehrkanals ab, gelangt man in die Genthiner Straße: es eröffnet sich eine Blickachse, deren Fluchtpunkt die Zwölf-Apostel-Kirche am Ende der Straße ist. Besonders nach Überqueren der Lützowstraße bietet sich dem Flaneur ein eintöniger Anblick von sich aneinanderreihenden Neubaukomplexen und Möbelhausgiganten. Die baulichen Strukturen der Möbelhäuser dominieren die Atmosphäre der Straße. Im Fall von Möbel Hübner ist fast das gesamte Areal von Genthiner Straße bis Pohlstraße in Firmenbesitz, während Krieger seit den 1960er Jahren den gesamten vorderen Teil der Straße bebaute. Es ist diese räumliche Komponente, welche hier Macht symbolisiert. Denn der Raum, der von den Unternehmen beansprucht wird, negiert den Nutzungsanspruch anderer- dies betrifft Bewohner sowie individuelle Architektur. Infolgedessen wirkt die Genthiner Straße verlassen, der öffentlich-soziale Raum der Straße scheint zerstört, es fehlt die Struktur von kleinen Geschäften, Cafés, etc. Erst auf den zweiten Blick lassen sich Inseln der Ästhetik und des sozialen Raums aufspüren. So findet sich auf dem Magdeburger Platz zwar kein Markthallentrubel mehr, eine Grünfläche mit Bäumen und Spielplatz bietet jedoch Ruhe und Gelegenheit für die Anwohner miteinander zu interagieren.

Ein paar Meter weiter bedarf es nur dem Abweichen vom Bürgersteig, um hinter der Neubaufassade Kontraste zu entdecken. Durchquert man die Toreinfahrt des Dänischen Bettenlagers, betritt man einen begrünten Hof, um den sich eine Gebäudegruppe im spätklassizistischen Stil ringt: ein Stadtvillenensemble aus dem 19. Jahrhundert, bezeichnet als Begaswinkel nach dem Maler Adalbert Begas.

Hier ansässig sind unter anderem ein Hotel, ein Studentenhaus und ein Verlag, der Begaswinkel ist also inhaltlich und architektonisch  eine verborgene Variation im Kontrast zur einseitigen Straßenfassade. Ein weiterer Ort kultureller Aktivität verbarg sich bis vor einigen Monaten im Vox Möbel Salon in Form der Galerie Beletage– das Gebäude steht jedoch inzwischen komplett leer.

Es wird sich zeigen, inwiefern im Rahmen des Quartiersmanagement die kulturellen Entwicklungen der Umgebung auch die Genthiner Straße zunehmend erfassen werden. Nicht zuletzt weil Geschichte und Straßenbild niemals statisch sind, bleibt es spannend die Veränderungen in Struktur und Erscheinung der Genthiner Straße zu verfolgen.

Poetische Potse – Teil 3 – literarischer Streifzug durch drei Jahrhunderte

Von Gastblogger Alexander Skrzipczyk
er studiert Germanistik und Philosophie an der TU
Fortsetzung vom 24. September 2011

Lützowufer

Unser Weg kanalisiert sich dem Lützowufer entgegen, immer gedankenversunken heimgesucht von Lesser Urys ausufernden Stadtverschwimmungen, zu denen sich Walter Benjamin auditiv ins Bild rückt, wie er gerade das erste Telephon bestaunt oder – sich ihnen arnohaft angleichend – Schmetterlinge beobachtet und einzufangen trachtet.

Eine Gruppe lärmender Schulkinder rennt mit ihren Ranzen an uns vorüber, mich am Ellenbogen streifend. Um diese Tageszeit? Doch eine alte Frau mit wachen Augen, die Pfeife rauchend am Kanal spaziert, wendet sich uns zu und hebt an, dass sie Marie Luise Kaschnitz sei, und dies die Straße ihrer Kindheit. Vor ungefähr einhundert Jahren habe tagtäglich ihr Schulweg hier begonnen: ein einziges „Rennen und Trödeln“:

Lützowufer

„Früh am Morgen, vor der Schule, stellen die Kinder einen Schnürstiefelfuß auf die Stufe des Erkers, schnüren und reißen die brüchigen Senkel ab, knoten und schnüren wieder, starren in das daneben aufgeschlagene Schulbuch, trinken angewidert ihren Eichelkaffee.[..] Die Von der Heydt-Straße, in der die Kinder zu Hause sind, ist langweilig, mit schmalen Vorgärten und überhaupt keinen Geschäften“. Daran hat sich auch heute nichts geändert, die Gegend hat sich ihrer Heimeligkeit vollends entäußert, ist zum reinen Transit-Ort, eigentlich zu einem Nicht-Ort geworden. „Ob auf der Herkulesbrücke wirklich ein bronzener Herkules gestanden hat, werden sich die Kinder viele Jahrzehnte später, wenn die ganze Gegend Ödland ist, nicht mehr erinnern [..] Auf der Brücke muß man stehen bleiben und nach einer Leiche Ausschau halten, es schwamm eine Leiche im Landwehrkanal, Landwehrkanal, das Lied wird zu Hause im Chor gesungen und die Mutter hält sich die Ohren zu. Der Schulweg besteht aus Rennen und Trödeln, der hübsche, mit Bäumen und Büschen bestandene Lützowplatz wird im Laufschritt überquert.“ Der Schulweg lässt die Primaner an gruseligen Sarggeschäften und dem KaDeWe vorbei mit „klappernden Federkästen“ schließlich in die Passauer Straße einbiegen, wo sie spreizbeinig zur Eingangspforte hasten – das Rennen ist in der Nähe des Schulhauses nicht gestattet. „In der Türe steht die Direktorin und mustert finster die Nachzügler, sie ist überaus gescheit und leidet an einem schlimmen Nervenzucken, das bei ihrem Anblick auch die Kinder überfällt. [..] Erst wenn sie, getrennt nun, in ihre Klassenzimmer treten, werden sie ruhig und setzten sich, furchtbar gähnend, jedes auf seinen Platz.“

Es ist nun schon einige Zeit gestundet seit unserer Abreise, und so lassen wir die Dame ihres Weges ziehen, und beschließen uns etwas zu stärken, erblicken ein ruhiges Plätzchen an der brausigen Potsdamer Straße, mit roter Marquise überdacht und einigen Tischlein darunter. Mit Korkenknall senden wir dem gegenüberigen Wintergarten-Varieté einen ihm geziemenden Gruß und gießen erfrischenden Perlwein in die mitgeführten Dekadenz-Sektengläser. Gerade als wir anstoßen wollen, kommt ein Mann um die 50 mit aufgeschwemmtem Gesicht aus der Tür und hält delirös lächelnd, einen Mundwinkel nach oben ziehend, sein Glas hinzu. Natürlich, das musste er sein: Joseph Roth. Schließlich wohnt er hier in der Potsdamer Straße 73 einige Zeit in den 1920er-Jahren, denkt an die Zeit des ersten Weltkrieges und die anschließende Gefangenschaft zurück und verarbeitet das Ganze zu seinem Kurz-Roman „Hotel Savoy“. Und dem Alkohol huldigt er auch regelmäßig, unser Gegenüber. Unter eine Zeichnung von 1938 in Paris, die ihn über Absinth-Gläsern zeigt, schreibt er nüchtern: „Das bin ich wirklich; böse, besoffen, aber gescheit.“ Ein Jahr später erliegt er in Paris seiner Körperverwahrlosung und den psychischen Strapazen der Emigration. „Prost!“ stoßen wir an, heften einen Mann mittleren Alters als Miniaturbild an die Pforte, über der schon ein Jugend- und ein Altersbild prangen, und lauschen dem träumenden Herren, Gabriel Dan, der als Protagonist und Bewohner eines billigen Zimmers im „Hotel Savoy“ dort – wenn er nur wollte – „mit einem Hemd anlangen und es verlassen konnte als der Gebieter über zwanzig Koffer“: „Ich lebe in einer weißen Welt aus Himmel und Schnee, Baracken bedecken die Erde wie ein gelber Aussatz. Ich schmecke den letzten Zug aus einem aufgeklaubten Zigarettenstummel, lese die Inseratenseite einer heimatlichen, uralten Zeitung, aus der man vertraute Straßennamen wiederholen kann, den Gemischtwarenhändler erkennt, einen Portier, eine Agnes, mit der man geschlafen hat. Ich höre den wonnigen Regen in durchwachter Nacht, die hurtig schmelzenden Eiszapfen in lächelnder Morgensonne, ich greife die mächtigen Brüste einer Frau, die man unterwegs getroffen, ins Moos gelegt hat, die weiße Pracht ihrer Schenkel. Ich schlafe den betäubenden Schlaf auf dem Heuboden, in der Scheune. Ich schreite über zerfurchte Äcker und lausche dem dünnen Sang einer Balalaika.“

Die Gläser sind leer, der Mann wischt sich mit einem karierten Tuch die Stirn, schließt das Buch und steckt es in das Futteral seines Jacketts. Wie er so gelesen hatte, waren seine Augen ganz blinkerig geworden und ein Pfundsgeist war aus der Ruine hervorgekrochen, und selbst der ältliche Torso hatte sich wachsend gebäumt. Als wir ihm das sagen, lacht er bequem und zitiert sich selbst, schon etwas weise, ja alt und klug wirkend: „So vieles kann man in sich saugen und dennoch unverändert an Körper, Gang und Gehaben bleiben. Aus Millionen Gefäßen schlürfen, niemals satt sein, wie ein Regenbogen in allen Farben schillern, dennoch immer ein Regenbogen sein, von der gleichen Farbenskala.“

Fortsetzung folgt